Hochadel, Oliver (2002) Knochenarbeit. Zur Wissenschaftskultur der Paläoanthropologie. UNSPECIFIED. (Unpublished)
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Abstract
Wer versucht die aktuellen Entwicklungen in der Paläoanthropologie zu verfolgen, muss nicht einmal die Tageszeitung aufschlagen. Die in scheinbar immer schnelleren Takt gemachten Funde werden auf den Titelseiten hinausposaunt. Um nur die spektakulärsten und letzten Entdeckungen zu nennen: Im Oktober 2000 präsentieren Martin Pickford (Kenia) und Brigitte Senut (Frankreich) der Weltöffentlichkeit Bruchstücke des "Millenium Man" (orrorin tugenensis), des mit sechs Millionen Jahren angeblich ältesten Hominiden. Im Juli 2001 ist es Yohannes Haile-Selassie (Äthiopien), der seine in der Afarsenke gefundenen Vormenschen-Fossilien publiziert, diesen "Ardipithecus ramidus kadabba" tauft und auf über fünf Millionen Jahre datiert. Und Mitte Juli dieses Jahres schien der Fund eines "Sahelanthropus Tchadensis" aus der Wüste des Tschads alles in den Schatten zu stellen. "Toumai"  so sein Spitzname  soll bis zu sieben Millionen Jahre alt sein. Dieser Fund schaffte es gar auf das Cover von "Nature"  handelte es sich doch um ein größeres und äußerst fotogenes Schädelfragment mit tief liegenden Augenhöhlen. Das große Interesse der Öffentlichkeit erklärt sich vor allem daraus, dass bei jedem dieser drei Funde behauptet wurde, Überreste des ältesten bisher bekannten Hominiden gefunden zu haben. Bei diesem Wettgraben um unseren ältesten Vorfahren kämpfen die Wissenschaftler nicht nur mit Hacke und Elektronenrastermikroskop, sondern auch mit kritischen Einwänden. Sowohl beim "Millenium Man" wie auch bei "Toumai" wurde einige Zeit nach ihrer Veröffentlichung angezweifelt, ob es sich dabei tatsächlich um hominide Fossile handle.
Dieser flüchtige Blick auf die Wissenschaftskultur der Paläoanthropologie verweist bereits auf zwei Charakteristika dieser Disziplin. Erstens scheint die Paläoanthropologie eine "öffentliche" Wissenschaft zu sein. Einen Tag, nachdem die Funde in Fachzeitschriften veröffentlicht werden, sind auch bereits die Tageszeitungen voll davon. Zweitens gehören Kontroversen vor allem bei der Altersbestimmung bzw. bei der Stammbaumerstellung zum Alltag.
Interaktion über die bzw. mit der Öffentlichkeit und heftige Kontroversen  das sind zwei Charakteristika, die das Interesse der Wissenschaftsforschung erregen sollten. Diese beschäftigt sich zwar bereits seit längerem mit der Paläoanthropologie, hat sich bisher aber  wenn ich das recht sehe  auf den kognitiven Output dieser Disziplin beschränkt. Also etwa: welche Konzepte des Menschen kommen bei der Interpretation der Funde zur Anwendung? Welche  durchaus im konkreten Sinne  Bilder unserer Vorfahren werden in Museen und Ausstellungen präsentiert? Was bisher weitgehend vernachlässigt wurde, ist die konkrete Forschungspraxis der Paläoanthropologie und damit auch deren Scientific Community.
Diese hat nämlich durchaus einige Eigenheiten aufzuweisen. Einige ihrer führenden Vertreter, wie etwa der Kenianer Richard Leakey, haben kein Studium abgeschlossen  und waren auch stolz darauf. Denn die Wahrheit liegt ja nicht in Cambridge oder Stanford, sondern in der tansanischen Olduwaischlucht, nicht zwischen Buchdeckeln, sondern im Boden der Tatsachen. Der US-Amerikaner Jon Kalb brachte nichts als ein abgebrochenes Geologiestudium mit nach Äthiopien, um dort in den Siebzigerjahren wesentlich zur Erschließung der hominidhaltigen Afarsenke beizutragen. Das Bild des wagemutigen und betont unakademischen Abenteurers wurde von manchen bewusst kultiviert.
Mit Blick auf die letzten Jahrzehnte lässt sich aber sicher von einer Professionalisierung sprechen. Grabungsteams werden von Universitätsprofessoren angeführt, die ihre Doktoranden im Schlepptau haben. Ein weiteres Merkmal der Forschungspraxis der Paläoanthropologie ist die Interdisziplinarität eines Grabungsteams. Neben Paläoanthropologen im engeren Sinne waren fast von Beginn an, d.h. seit den Sechzigerjahren Geologen sowie neuerdings auch Paläobiologen mit von der Partie. Geologen bestimmen die Sedimentschichten, die für eine Grabung sinnvollerweise überhaupt in Frage kommen. Paläobiologen bestimmen etwa die gefundenen Schweineknochen und können so relativ präzise Altersbestimmungen einer Schicht vornehmen, da bestimmte Schweinearten zeitlich gut zugeordnet werden können. In den letzten Jahren sind auch Genetiker vermehrt an Ursprungs- und Stammbaumfragen des Menschen interessiert. So arbeiten etwa am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Molekularbiologen, Primatologen und Paläoanthropologen an einem Ort. Die Disziplin ist hinsichtlich ihrer "Personalrekrutierung" vergleichsweise offen für Quereinsteiger. So ist vor einigen Jahren der Wiener Humanbiologe Horst Seidler zum "Grabungsunternehmer" in Äthiopien geworden. Seine Innovation besteht darin, neueste Medizintechnik wie die Computertomographie auf fossile Überreste anzuwenden. Genauere Untersuchungen zur Zusammensetzung der Scientific Community der Paläoanthropologie, der disziplinären Herkunft etc. stehen aber noch aus.
Hinsichtlich der Forschungspraxis der Paläoanthropologie ist die Grabungssaison von der heimischen Laborarbeit zu unterscheiden. Die Arbeit im Felde findet vor allem in (ost-) afrikanischen Ländern wie Äthiopien, Kenia, Tansania, Malawi und neuerdings dem Tschad statt. Die (post-)koloniale Dimension der Paläoanthropologie kann hier nur angedeutet werden. Da wäre auf der inhaltlichen Seite die Auseinandersetzung um die "East-Side-Story", wonach "der Mensch" aus Ostafrika stammt. Auf der personellen Seite ist zu bemerken, dass die Forscher lange Zeit vornehmlich aus dem Westen kamen, während sich in den letzten Jahren verstärkt einheimische Paläoanthropologen eingebracht haben. Spannungen zwischen Forschern aus Erster und Dritter Welt, Entwicklungshilferhetorik und Bemühungen um "political correctness" sowie Auseinandersetzungen mit den Grabungsländern (oder anderen Forscherteams) um Grabungslizenzen gehören längst zum Alltag der Paläoanthropologie. Da die Ressourcen, also die hominiden Fossile, vermeintlich knapp sind, wird der Kampf um aussichtsreiche Grabungsgebiete oft mit äußerst harten Bandagen geführt, der bis zur Kriminalisierung der Gegner reichen kann.
In der Öffentlichkeit bemühen sich die Paläoanthropologen freilich um ein anderes Image. Das große Interesse einer breiten Öffentlichkeit an der Paläoanthropologie haben wir bereits eingangs erwähnt. Die Fossilfunde in Ostafrika nach 1945 fanden sehr bald ein starkes Medienecho, weil in der Vorgeschichte des Menschen so genannte "letzte Fragen" nach unserer Herkunft, dem Ursprung von Sprache und Bewusstsein usw. verhandelt werden. Dieses Interesse der Öffentlichkeit wurde und wird durch populärwissenschaftliche Darstellungen gleichermaßen geweckt wie befriedigt, wobei diese oft von den Forschern selbst verfasst werden. Einige dieser populärwissenschaftlichen Werke von Yves Coppens, Donald Johanson, Jon Kalb und Richard Leakey wurden gar zu Bestsellern. Die notorischen Konflikte um unterschiedliche Stammbaummodelle, Datierungsfragen und Interpretationen bestimmter Funde werden somit nach außen getragen, die eigenen Kollegen mehr oder weniger heftig kritisiert. Besonders spannend für die Wissenschaftsforschung ist die Frage, wie diese Autoren ihre eigene Disziplin konstruieren. Denn in fast in jedem dieser Bücher wird auch die Geschichte der Paläoanthropologie seit den Neandertalfunden des 19. Jahrhunderts rekapituliert und bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Die Autoren nehmen also eine Doppelrolle ein, sind gleichzeitig Fachhistoriker und Beteiligte. Diese Spannung, die eigene Arbeit und jene von Kollegen bzw. Konkurrenten im Gesamtkontext situieren zu müssen, ermöglicht tiefe Einblicke in das Selbstverständnis und die Konfliktlinien der Diszipli
Item Type: | Other |
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Uncontrolled Keywords: | graduiertenkonferen, kulturwissenschaften |
Subjects: | Kulturwissenschaften, cultural studies > Graduiertenkonferenz: Wissenschaftskulturen - Experimentalkulturen - Gelehrtenkulturen |
Depositing User: | Caroline Gay |
Date Deposited: | 06 Dec 2020 12:32 |
Last Modified: | 18 Mar 2022 14:18 |
URI: | http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2142 |