Lelke, Ina (2002) Zwischen "Weltstadt" und häuslicher Gelehrtenkultur. Die Brüder Grimm in Berlin. UNSPECIFIED. (Unpublished)
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Abstract
Nachdem die Brüder Grimm, die sogenannten ,Gründungsväter' der Germanistik, im Jahr 1841 in die Universitäts- und Residenzstadt Berlin übergesiedelt waren, verbrachten sie dort noch immerhin 20 Jahre ihres Lebens. Hier entstanden nicht nur die überarbeiteten Fassungen der Kinder- und Hausmärchen und der Deutschen Mythologie, sondern hier wurde auch mit einem Jahrhundertwerk begonnen: dem Deutschen Wörterbuch. Obwohl dieses Vorhaben von Beginn als ein arbeitsteiliges Forschungsunternehmen durchgeführt wurde, wie es sonst nur die Klassischen Philologen an der Berliner Akademie praktizierten, so ist die Berliner Zeit doch von der Wissenschaftsgeschichte kaum beachtet worden. Offenbar ist das darauf zurückzuführen, dass die Arbeiten der Grimms weitestgehend unabhängig von den Berliner Forschungs- und Bildungseinrichtungen erfolgten. Sie verfügten in Berlin niemals über einen eigenen Lehrstuhl. Nur als Akademiemitglieder konnten sie Vorlesungen an der noch jungen Universität halten. Sie blieben Privatgelehrte. Wie konnten sie dann aber ihre umfangreichen Projekte umsetzen? Im Rahmen meiner Dissertation habe ich die Arbeits- und Organisationspraktiken der Brüder Grimm ausgehend von einer soziokulturellen Perspektive untersucht, die "science as culture and practice" versteht.
Einen ersten Hinweis auf die Forschungspraktiken der Grimms gab die Formulierung vom "geselligen Arbeiten" (Wilhelm Grimm) und die hinterlassene Briefkorrespondenz. Als besonders aufschlussreiche Quelle erwies sich jedoch das bislang unpublizierte Tagebuch, das Wilhelm Grimm in der Berliner Zeit kontinuierlich führte. Streng genommen handelt es sich um eine Art Schreibkalender, denn die explizite Bezeichnung Tagebuch fehlt. Die Notizen sind so kurz gefasst, dass manchmal sogar Satzkonstruktionen fehlen. Ein Schreibkalender ist ein Medium, welches an einen "Funktionsraum" gebunden ist und als Textsorte eine Mischform bezeichnet. So zählen zu dem Text des ,Tagebuchs' auch Visitenkarten, Rechnungen, Todesanzeigen, Notizzettel, Theaterprogramme, Speisefolgen sowie Adress- und Briefverzeichnisse.
In diesem Tagebuch ist nicht nur nachzulesen, welche Geselligkeiten Wilhelm Grimm aufsuchte, sondern auch welche im Hause Grimm veranstaltet worden sind. So fand ca. ein Jahr nach der Ankunft der Familie regelmäßig eine "Sonntagabendgesellschaft" statt. Nach dem Vorbild der "offenen Häuser" in Berlin organisierte Dorothea Grimm, die Ehefrau Wilhelms diese Geselligkeit. Sie empfing auch unabhängig davon Gäste ebenso wie ihr Ehemann oder wie der im Haushalt lebende Grimm-Bruder Jacob. Die Raumaufteilung der Wohnung ermöglichte dies, in der Linkstrasse verfügte die Familie über ein zusätzliches, "Saal" genanntes Gesellschaftszimmer. Dem Tagbuch zufolge hielten die Grimms keine häuslichen Vorlesungen, doch Studenten kamen zum Mittagstisch, zum Tee oder zu den abendlichen Festlichkeiten. Sie brachten ihre Arbeiten oder liehen Bücher aus der umfangreichen Bibliothek ihrer Mentoren. Dabei notierte sich Wilhelm Grimm auch, welcher Student von wem empfohlen worden war. Männer und Frauen hatten gleichermaßen Zugang zu dem Haus. Frauen schrieben ebenfalls Empfehlungen für Studenten und waren an der Bücherleihe beteiligt.
Das personelle Beziehungsnetz, das sich in diesen Notizen widerspiegelt, ist von den Arbeitszusammenhängen der Grimms nicht zu lösen. So sind unter den Exzerptoren am Deutschen Wörterbuch, die dort namentlich aufgelistet sind, Besucher des Hauses, Familienmitglieder sowie auch drei Frauen genannt. Das ist insofern bemerkenswert, als Frauen zu dem Zeitpunkt bekanntlich keinen Zugang zu den Forschungsinstitutionen hatten. Dies kann als Indiz für die Andersartigkeit der Zugangsmöglichkeiten und für die offnere Zusammensetzung der häuslich-geselligen Gemeinschaft gewertet werden.
Die Erwähnung und Goutierung der Tätigkeiten oblag allein den beiden Grimms. Sie unterschieden grundsätzlich zwischen redaktionellen Arbeiten und denen der Zuträger(innen). Beeinflusst wurde die Wertschätzung durch das Entstehen eines neuen Arbeitsethos, welches eine Verbindung mit der herrschenden Geschlechtertopik eingehen konnte. Was hatten dann aber die Mittler(innen) von ihrem Engagement? In Einleitungen und Widmungen erwähnten oder würdigten die Grimms das Engagement ihrer Freunde und geselligen Hausgenossen. Die Märchenausgaben widmeten sie wiederholt ihrer Gönnerin Bettina von Arnim, die einst durch ihre unablässigen Bemühungen die Übersiedlung nach Berlin ermöglicht hatte. Daneben existierte eine sehr persönliche, quasifamiliäre Form der Anerkennung. Die Exzerptorin und der Familie nahestehende Amalie Hassenpflug bedachten sie zum Geburtstag mit einem kostspieligen Geschenk. Gemeinsam feierte man Feste. Dauerhafte Kontakte wurden durch familiäre Beziehungen befestigt, so z.B. durch die Übernahme von Taufpatenschaften zur Familie der Germanisten Wackernagel und Koberstein.
Zunächst mögen diese häuslich-geselligen Praktiken als recht unspektakulär erscheinen, da sie gegenüber den Forschungs- und Bildungsinstitutionen offenbar auf einen informellen, halbfamiliären und nichtsichtbaren Privatbereich begrenzt waren. Dennoch gestalteten sie sich als höchst effektiv. Gönner oder adlige Fürsprecherinnen sorgten in diesem Netz für Stabilität. Über reisende Gelehrte und Besucherinnen aus dem Ausland (Europa, Russland, Vereinigte Staaten, Japan) erfolgte eine Vernetzung über die Ländergrenzen hinweg. So übersetzte die Auslandskorrespondentin des Londoner Athenaeums, Sarah Austin, z.B. erstmals Auszüge aus den Biographien der Brüder in die englische Sprache. Sie hatte die Familie mehrfach in Berlin aufgesucht und versicherte Jacob Grimm in einem Brief "that you & your's have an agent in and for England". Es ist sicher kein Zufall, dass wenige Jahre später ausgerechnet im Athenaeum zu Forschungs- und Sammelprojekten aufgerufen worden ist, die explizit an das Werk der Grimms anknüpfen sollten. Ein anderes Mal lernten die Grimms bei einer häuslichen Begegnung die Tochter des befreundeten, serbischen Kollegen Karadžic kennen. Jacob Grimm ermunterte sie dazu, die Übersetzung der serbokroatischen Märchensammlung ihres Vaters zu übernehmen. Über auftretende Übersetzungsprobleme korrespondierten sie miteinander.
Im Gegensatz zu den Berliner Forschung- und Bildungsinstitutionen sowie zu den Vereinen bot das "offene Haus" eine höheres Maß an Internationalität. Hier war ein face to face und eine vertrauliche Atmosphäre möglich, die Arbeitszusammenhänge entstehen ließ.
Die große Bedeutung solcher informellen Beziehungsnetze betonte auch Karl Gutzkow, Student an der Berliner Universität, in einer Beschreibung des öffentlichen Stadtlebens aus dem Jahr 1844. Seiner Ansicht nach glänzte die "Weltstadt" nicht durch ihre bestehenden Institutionen. Er hob stattdessen die machtvolle Position der "offenen Häuser" hervor und führte diese auf die Berliner Salonkultur zurück: "In Berlin wohnen und nichts wirken, nichts vorstellen, nichts vertreten, ist der geistige Tod [...] Jeder muss einen Kreis von Gleichgesinnten um sich haben, er muss sich nach Anlehnungen umsehen. Kann er nicht selbst einen Mittelpunkt bilden, so ordnet er sich unter und wird Stammgast im Salon eines andern. Berlin hat seine Salons, in der Tat Salons im französischen Wortsinne. Ich muss sogar so weit gehen, zu behaupten, dass es mit Geldkosten verknüpft ist, in Berlin eine eigene Meinung zu haben. Man muss seinen offenen Mittwoch, seinen offenen Freitag, seinen Dienstag haben, um hier ein durchgreifender, öffentlicher Charakter zu sein. Das ist kostspielig, hier mit Tieck, mit den Grimms, mit Herrn von Savigny zu rivalisieren."
Das Zitat klingt wie ein Appell an die Fachgeschichte, doch noch einmal genauer auf das zu sehen, was sich neben Akademie und Universität entwickelte. Demnach sind die Brüder Grimm einer Wissenschaftskultur zu zuordnen, die in einer informellen und geschlechtergemischten Geselligkeit wurzelte. Geselliges Arbeiten bildete für sie Grimms eine Art Hilfsstruktur, die neben den Institutionen bestand und als Ressource in Anspruch genommen wurde.
Die Zusammensetzung und Verortung dieser informellen Arbeits- und Kommunikationsgemeinschaft ist den Wissenserzeugnissen aus dem Hause Grimm teilweise noch anzumerken. Das Deutsche Wörterbuch wurde als ein wissenschaftliches Werk und zugleich als Hausbuch konzipiert. Es richtete sich betont an eine geschlechtergemischte Leserschaft. Die lexikographischen Erklärungen sind mitunter auf Hausgegenstände bezogen. Es gibt kein Wörterbuch, das so viel Persönliches enthält.
Wie ist nun mit diesem Befund umzugehen? Schon die frühe Wissenschaftsgeschichte befiel Unsicherheiten, sobald sie die Brüder Grimm für die Entwicklung der eigenen Wissenschaftspraxis zu vereinnahmen gedachte, die eine strikte Trennung von Berufs- und Lebenswelt, von Arbeits- und Wohnort voraussetzte. Die aktuelle Fachgeschichte läuft m.E. in Gefahr die Probleme der frühen Historiographie zu reduplizieren, indem sie - allerdings nun von einer systemischen Perspektive aus - Schemata entwirft, deren Entwicklungslinien abermals in einer Wissenschaftspraxis münden, wie wir sie heute kennen und praktizieren. Die einzelnen Phasen der Entstehung einer gelehrten, disziplinären und universitären Gemeinschaft sind in eine teleologische Abfolge eingespannt. Sowohl die disziplinäre Vergemeinschaftung als auch die Entstehung von Wissenschaft werden zu einem Zeitpunkt angesetzt als sich eine System-Umwelt-Differenz vollzog. Aber ist dem so?
Vor dem Hintergrund einer solchen Phaseneinteilung müssen die Arbeitspraktiken der Grimms zwangsläufig als vormodern erscheinen. Sie schöpften aus halbfamiliären und häuslichen Zusammenhängen, ihre Berufs- und Lebenswelt ist auf der Arbeitsebene kaum voneinander zu trennen. Waren sie also Nur-Gelehrte, Relikte einer protowissenschaftlichen Welt?
Immerhin leisteten die Grimms dem modernen Forschungsimperativ folge, der eine Arbeitsteilung propagierte und erstmals von den Altphilologen praktisch umgesetzt worden war. Sie waren bereits fähig, das Sichtbarkeitsverhältnis von "back-" und "frontstage" regulieren zu können - einem Moment, dem Steven Shapin Modernität zugesprochen hat. Über die informellen V
Item Type: | Other |
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Uncontrolled Keywords: | graduiertenkonferenz, kulturwissenschaften |
Subjects: | Kulturwissenschaften, cultural studies > Graduiertenkonferenz: Wissenschaftskulturen - Experimentalkulturen - Gelehrtenkulturen |
Depositing User: | Caroline Gay |
Date Deposited: | 06 Dec 2020 12:33 |
Last Modified: | 06 Dec 2020 12:33 |
URI: | http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2144 |