Husserls erste bedeutende Arbeit ist die ,,Philosophie der
Arithmetik``. Darin finden sich bis heute weit verbreitete
Ansichten über elementare mathematische Sätze wie
,,2+3=5``. ,,Jedem, der weiß, was 2, 3, 5 und die
Zeichen + und = bedeuten, leuchtet dieser Satz unmittelbar und mit
Evidenz ein.``
Bei komplizierteren Additionen geht dieses direkte Einleuchten zwar
verloren, doch die Sicherheit verschwindet nicht.
Ist doch die ganze Arithmetik, wie wir sehen werden, nichts anderes, als eine Summe kunstmäßiger Mittel, die hier berührten wesentlichen Unvollkommenheiten unseres Intellekts zu überwinden.Den Nachweis seiner Theorie führt Husserl in einer naiven Mengentheorie.![]()
Betrachten wir z.B. den Begriff der unendlichen Menge von Zahlen. Der Prozeß der Hinzufügung einer Einheit zu einer beliebig gegebenen Zahl ist eine Operation, deren Begriff es a priori gewährleistet, daß sie zu einer bestimmten und neuen Zahl hinführt. Gehen wir von der Zahl Eins aus, dann führt dieses Bildungsprinzip zu Zwei, Drei, ..., zu neuen und immer neuen Zahlen, ohne Rückkehr und ohne Schranken.Die Frage ist, woher wir das zweifelsfrei wissen, ohne es in jedem Einzelfall nachvollzogen zu haben.![]()
Husserls Antwort wird Sie nicht überraschen. Vorausgesetzt ein
,,Anfangsstück der Zahlenreihe (symbolisiert durch die
anschauliche Reihe der Zeichen oder dgl.)``
und weiters das ohne Einschränkung anwendbare Bildungsprinzip der
Addition um Eins, folgt aus begrifflichen Gründe zwangsläufig, daß
sich eine unendliche Menge von Zahlen produzieren läßt. Das liegt
im Sinn von ,,Anfang`` und der genannten Operation genauso
evident, wie im Fall ,,2+3=5`` in den betreffenden
Konzepten.
Für Husserl hätte jemand, der im einfachen Fall nicht auf ,,5`` kommt sich nicht verrechnet, sondern nicht verstanden, worum es überhaupt geht. Analog würde er jemandem, der daran zweifelt, daß die unbeschränkt wiederholte Operation zur Menge der natürlichen Zahlen führt, keinen Raum für Irrtum zugestehen. Entweder er hat begriffen, oder er redet von etwas anderem.
Logisch unanfechtbar ist die Vorstellung eines bestimmten unbeschränkten Prozesses; desgleichen die Idee von alledem, was in seinen Bereich fällt, was er durch seine begriffliche Einheit umspannt. So viel und nicht mehr darf also der Begriff der unendlichen Menge in sich aufnehmen.![]()
Husserls Schrift über die Krisis der europäischen Kultur ist bekannter geworden, als seine Mathematikphilosophie, aber ihre historische Methodologie orientiert sich noch immer an der eben dargestellten logischen Struktur. Als solche bildet sie den Hintergrund für Blumenbergs Verteidigung von Facta infecta fieri non possunt. Dem unmittelbar einsichtigen Anfangsstück der Zahlenreihe entspricht im Kontext der Temporalität ein besonderer, kurzer Zeitabschnitt, aus dem alle weiteren Zeitpunkte ihre Bestimmung erhalten. Was in der traditionellen Mathematik ,,Axiome`` sind, heißt auf die Geschichte übertragen ,,Urstiftung``. Husserl sieht das Spezifische der abendländischen Kultur in der griechischen Entscheidung für Theorie grundgelegt. Doch das ist erst der eine Teil der Analogie.
So wie die in ihrem Begriff skizzierte Zahlenreihe die möglichen Resultate des Additionsprozesses vorweg bestimmt, liegt in der Vorstellung des europäischen Geschichtsverlaufes, daß er mittels Anfang und Auftrag quer durch die Zeit determiniert ist. Daß Fakten nicht ungeschehen zu machen sind, folgt als Korollar. Ereignisse müssen nicht eintreten, sowenig wie wir faktisch bis zu einer bestimmten Zahl hochzählen müssen. Sobald sie jedoch stattgefunden haben, sind sie unwiderruflich. Sie zu leugnen wäre so widersinnig, als wollte jemand die Vorgänger einer bereits erreichten natürlichen Zahl eliminieren.
Ich bringe einige Zitate, die belegen, wie Blumenberg dieses formale
Gerüst zu einer Geschichtsmetaphysik ausbaut. ,,Unter dem
Namen ,Urstiftung` belegt sich der Anspruch auf
Unvergeblichkeit der menschlichen Geschichte ...``.
Urstiftung sei ,,die früheste Willensbildung, die den
Geschichtsweg auf Theorie eingerichtet haben sollte.``
,,Geschichte heißt, daß es keine Anfänge nach dem Anfang
gibt.``
,,Wenn es keine absolute Zukunft mehr geben kann, muß es eine
absolute Vergangenheit geben, das untilgbare Gewesensein ...Was
gewesen ist, bleibt.``
Genug davon, derart umfassende und mit Bestandsgarantien freizügig
um sich werfende Aussichten kann eine sprachanalytisch ausgerichtete
Philosophie nicht akzeptieren. Sie wird sich auch der großflächigen
geistesgeschichtlichen Überblicke enthalten, mit denen Blumenberg
diesen Rahmen füllt. Aber in die Debatte über das Grundprinzip kann
sie sich einmischen.