Wenn wir von "chinesischer Philosophie" sprechen, so ist der Hinweis wichtig, dass für das griechische Wort "Philosophie" erst in der Zeit der Meji-Reform in Japan (= nach 1869) ein neues sino-japanisches Zeichen gebildet wurde, das im Japanischen "tetsugaku" ausgesprochen wird und aus zwei traditionellen Zeichen besteht, die mit "weise, intelligent" und "Studium" übersetzt werden können. In die chinesische Literatur wurde dieses Zeichen übernommen, als nach Chinas Niederlage im Chinesisch-Japanischen Krieg (1894/95) Chinesen in Japan studierten. Die Umschrift des chinesischen Begriffs ist "zhe-xue" (che-hsüeh)[1]. Mit diesem Begriff wird bis heute sowohl im Japanischen als auch im Chinesischen ausschließlich die "westliche" Philosophie benannt. Die Themen, die Begriffsbildungen und auch die Methoden bestimmter Denkschulen, welche in der chinesischen Historiographie schon sehr früh identifiziert und benannt worden sind, als "Philosophie" zu bezeichnen, ist dennoch sachlich durchaus gerechtfertigt.
Gegen diese Einschätzung wird häufig angeführt, chinesische - wie auch andere nichtgriechische - Denktraditionen seien nicht "im strengen Sinn" als "Philosophie" zu betrachten. Wir müssen uns an dieser Stelle mit diesem Einwand befassen, denn wenn er berechtigt ist, so haben die folgenden Darstellungen nur sehr eingeschränkten Wert.
Ganz gewiss kann aus den alten chinesischen Dokumenten nicht der Eindruck gewonnen werden, es handle sich um einen einheitlichen Ausdruck kollektiven Denkens, also um einen gleichsam ethnophilosophischen Gegenstand. Ein solcher Eindruck entsteht zuweilen, wenn in generalisierender Weise von "chinesischen Weisen" gesprochen wird oder auch bei Foucaults unglücklichem Borges-Zitat aus "einer gewissen chinesischen Enzyklopädie".[2] Schon bei oberflächlicher Lektüre ist es vielmehr unvermeidlich, individuellen Stil, individuelle Gedankenführung und Ausdrucksweise wahrzunehmen. Es sind sehr unterschiedliche Personalitäten, die für das Daodejing, das Zhuangzi, das Lunyu, Mozi oder Han Feizi verantwortlich sind, auch wenn im einzelnen oft nicht mehr auszumachen sein wird, wer und wie viele Autoren daran beteiligt waren. Weder die chinesischen Kommentatoren und Literaturwissenschafter, noch die okzidentalen Philologen und Übersetzer lassen einen Zweifel daran aufkommen, dass hinter den Texten ausgeprägte Persönlichkeiten stehen. Das wird im übrigen auch in der chinesischen Ikonographie deutlich. Alle "Porträts" von Autoren der Frühzeit sind mehr oder weniger fantastisch und stereotyp, aber einander ähnlich sind sie keineswegs. Es war vielleicht gut getroffen und drängt sich bei Darstellungen des Konfuzius auch auf, wenn Egon Friedell "das Konfuzianische" mit einer "Gebärde"[3] assoziiert. Bei Mo Di, Han Fei oder Zhuang Zhou drängt dieses sich ganz und gar nicht auf.
Verfehlt wäre es auch, an die achsenzeitlichen Reflexionen in China mit der Einstellung heranzugehen, es handle sich um eine harmlos-erbauliche Lektüre, eine Einstimmung zur Meditation oder nur geeignet, den "harten europäischen Verstand ... sich abzutun", wie Hegel meinte.[4] Das könnte vielleicht noch gelten, wenn jemand sich von rein metaphysischen Fragen oder von logischen Analysen erholen möchte, aber sicher nicht, wenn ethische und gesellschaftstheoretische Fragen gestellt werden. Die Fragen wie die Antworten im Bereich der praktischen Philosophie werden hier radikal formuliert. Nehmen wir beispielsweise die Frage nach der Berechtigung von staatlich organisierter Gewalt nach innen oder nach außen, also von Regulierung und Zwang durch Strafgesetze einerseits, durch Krieg andererseits. In beiden Fällen sind extreme Lösungen formuliert worden. Die Formel von einem "Krieg zur Beendigung aller Kriege" ist keine Erfindung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs[5], sondern findet sich bei den Legalisten in Qin. Auf der anderen Seite der Skala steht der harte Pazifismus der Mohisten, der jeden Krieg verurteilt, obwohl er von der Idee ausgeht, dass der Naturzustand der Menschen ein "Kampf aller gegen alle" gewesen sei.[6] Hinsichtlich der Frage der inneren Ordnung einer Gesellschaft wird eine Skala von Lösungen durchgespielt, die zwischen einer durchgehenden gesetzlichen Regulierung aller Lebensbereiche und einer vollständigen Auflösung von Herrschaftsverhältnissen liegen. Alle diese Autoren waren nicht bloße Theoretiker, sondern suchten ihre Konzepte auch politisch durchzusetzen.
Die Frage bleibt, ob PhilosophInnen der Gegenwart (in Asien, im "Westen", in Lateinamerika, in Afrika oder wo immer) aus einem philosophischen Interesse heraus gute Gründe haben, sich mit der alten chinesischen Philosophie zu befassen - wem und zu welchem Zweck "nutzt ein Blick zurück"[7] in diese Vergangenheit?
Ich sehe einen guten Grund darin, dass die Reflexionen der klassischen chinesischen Philosophie tatsächlich zur Geschichte des philosophischen Denkens der Menschheit gehören. Wenn dem so ist, dann sollte es für PhilosophInnen der Gegenwart, falls sie sich überhaupt mit historischen Ausformungen des Denkens zu beschäftigen bereit sind - etwa mit griechischer oder europäisch-mittelalterlicher Philosophie - keines weiteren Arguments dafür bedürfen, sich auch mit chinesischen - wie auch mit anderen - Traditionen etwas vertraut zu machen.
Es gibt noch andere Gründe. Der wichtigste scheint mir darin zu liegen, dass die klassische chinesische Philosophie in vieler Hinsicht heute lebendig ist und wenig darauf hinweist, dass sie aus dem Chor der Weltsichten ausscheiden würde. Dabei ist nicht nur an ideologisch-politische Deklamationen über "asiatische Werte" zu denken, wie sie bisweilen ohne Differenzierung und wohl auch unter Vernachlässigung der denkgeschichtlichen Sachverhalte selbst vorgetragen werden.[8] Es besteht darüber hinaus ein echter Bedarf an Information, der auch die philosophischen Traditionen betrifft. Bislang sind Informationen darüber vorwiegend einseitig und natürlich auch selektiv geflossen, sodass ostasiatische PhilsophInnen in der Regel weit mehr über okzidentale Philosophie wissen als dies umgekehrt der Fall ist. Das ist einem gegenseitigen Verständnis und Dialog sicher nicht zuträglich.
[1] Zur Umschrift chinesischer Namen und
Begriffe wird hier die Pinying-Schreibweise verwendet. Die traditionell
verbreitete Transkription nach Wade-Giles und fallweise andere Schreibweisen
werden nur bei der ersten Nennung eines Eigennamen oder eines Begriffs in
Klammern angeführt bzw. in Literaturzitaten beibehalten. Dieses Verfahren
könnte dazu behilflich sein, einem `Notstand' etwas abzuhelfen, unter dem
Nicht-SinologInnen manchmal leiden: "Große Schwierigkeiten hatte ich mit
der verschiedenen Wiedergabe der chinesischen Namen, die so variiert, daß
man teilweise nur spekulieren und raten kann, ob etwas noch identisch ist oder
ob es sich um verschiedene Personen mit ähnlichen Anschauungen handelt."
(Aus einer Seminararbeit in Philosophie, Wien 1985) Mir ist es ähnlich
ergangen.
Zu "tetsugaku" siehe Rose-Innes, S. 112.
[2] Gadamer, Foucault xxx
[3] Egon Friedell: Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients. Leben und Legende der vorchristlichen Seele. München: Beck 1967 (zuerst 1936). S 98: "Wenn durch eine Anzahl von Generationen eine Religion geglaubt (nicht bloß bekannt) wird, so müssen die Sprößlinge unfehlbar den puritanischen Gesichtsschnitt, das buddhistische Phlegma, den mosaischen Tonfall, die römische Nase, den griechischen Blick, die konfuzianische Gebärde bekommen."
[4] G.W.F. Hegel: Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Hg. G. Irrlitz. Leipzig: Reclam 1973, Bd. I, S. 136.
[5] Die US-amerikanischen Bezeichnungen für den "Ersten Weltkrieg" änderten sich in aufschlussreicher Weise: "Initially we followed the British lead in calling the conflict the European War (1914), but increasingly we called it the World War. We also called it `the war to end all wars', a phrase erroneously associated with Woodrow Wilson (and perhaps from H.G. Wells' 1914 book The War That Will End War), and `the last war'." (Stuart Berg Flexner: I Hear America Talking. New York: Touchstone 1979, S. 401)
[6] Hobbes xxx
[7] Vgl. Dieter Senghaas: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, Kap. 2: "Nutzt ein Blick zurück? Relevanz der klassischen chinesischen Philosophie für das moderne China" (S. 50-70)
[8] Dafür kann gelten, was Yoshikazu Sakamoto in einem Gespräch mit Franz Nuscheler sagt: "The `Asian values' espoused by Lee Kuan-yew and Mahathir bin Mohammed are not really `Asian', because these values are not shared by all peoples in `Asia'. ... The defense of `Asia' - a concept that is unclear even to the `Asians' themselves - is intended to thwart the further democratization of their respective regimes, equating the claim for universal democracy and human rights with `the West'. Sooner or later, the particularist nature of this ideology, in terms of time and space, will be disclosed." (In: Andreas Gettkant, Red.: Development, cultural diversity and peace: visions for a new world order. Bonn: Stiftung Entwicklung und Frieden 1996, S. 56)
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