Grenz-Lektüren. Literaturwissenschaftliche Lektüre als Wertungspraxis und Grenzziehung

Glaser, Marie Antoinette (2002) Grenz-Lektüren. Literaturwissenschaftliche Lektüre als Wertungspraxis und Grenzziehung. UNSPECIFIED. (Unpublished)

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Abstract

"... und wer unverständig mitredet, unterliegt zwangsläufig dem Verdacht, nicht jede Zeile gelesen zu haben."
(Hans Blumenberg, Das finale Dilemma des Lesers)

Die professionellen LeserInnen melden sich zu Wort. Gegen das Nicht-Lesen wird an prominenter Front gefochten. In der ZEIT apostrophieren Literaturwissenschaftler und -kritiker eine Bildungsoffensive der ästhetischen Art. "Weshalb wir einen literari-schen Kanon brauchen" begründet Ulrich Greiner sein Plädoyer für literarische Bil-dung, die über den "Umgang mit anspruchsvollen Texten" Welt- und Herzensbildung garantiere. Offensiv wird Stellung bezogen für das Stu-dium der Literatur, das "nicht nur ein Privatvergnügen" sei. Goethe oder Kafka oder Thomas Mann nicht gelesen zu haben, hieße für eine Gesellschaft, das kulturelle Gedächtnis zu verlieren. Als Gegenmittel wird eine Kanon von 50 Titeln der deutschsprachigen Literatur aufge-stellt, dessen Lektüre die konstatierte Bildungsmisere und Lauheit der jungen Gene-ration beheben soll. Hier tritt eine geisteswissenschaftliche Disziplin mit einem Lö-sungsversuch für ein gesellschaftliches Problem an die Öffentlichkeit. Literaturwis-senschaftlerInnen plädieren für das Lesen und, um genau zu sein, für eine ganz be-stimmte Form der Lektüre: eine, die mit "anspruchsvollen Texten" umzuge-hen weiß.
Im Folgenden interessieren mich Konzepte und Praktiken, die Literaturwissenschaft bestimmen und hinter solchen Aussagen stehen. Denn die Lektüre einer Sammlung literarischer Werke würde nicht von allen als Antwort auf ein gesell-schaftliches Pro-blem gegeben. Wie denken und wie handeln Literaturwissenschaftle-rInnen? Um die-se Fragen zu stellen, gebrauche ich einen Ansatz, der die Germanistik - als litera-turwissenschaftliche Disziplin - mit veränderter Perspektive betrachtet: so rückt Germanistik als Wissenschaftskultur ins Licht.
Literaturwissenschaft als Wissenschaftskultur gesehen, bringt die AkteurInnen ins Blickfeld. Die Kultur einer Wissenschaft umfasst die Handlungsmuster und den Denkstil , die den alltäglichen Praktiken der WissenschaftlerInnen zugrunde liegen und diesen oft als selbstverständliche Voraussetzungen ihres Tuns nicht mehr be-wusst sind. Die Kultur einer Wissenschaft besteht aus den expliziten und impliziten Annahmen und Postulaten, die innerhalb der disziplinären Community undiskutiert bestehen. Für das obige Beispiel der Literaturwissenschaft etwa könnte eine solche Annahme lauten "Belesenheit bildet den Menschen".
Zur Kultur einer Disziplin zählen das kollektive Welt- und Menschenbild (die "Ideolo-gie des Feldes" wie Pierre Bourdieu sie nennt ), das implizite Wissen ebenso wie das Selbstbild und der diziplinär geprägte Habitus. WissenschaftlerInnen handeln vor der Folie ihrer jeweiligen disziplinären Kultur. Sie handeln aber nicht nur in struktu-rierten Räumen, sondern wirken ebenfalls durch ihr Handeln strukturierend auf die-sen Raum zurück.
LiteraturwissenschaftlerInnen verfügen über spezifische Umgangsweisen mit Texten, die sie von anderen LeserInnen oder Disziplinen unterscheiden. They are "doing things with texts" . Was sie genau tun, wenn sie "ihres" Tun, will ich hier beleuchten. Die Lektüre und der Kommentar von ausgewählten Texten bilden den Ausgangs-punkt meiner Überlegungen. Beide Praktiken sind grundlegend für die Institution Lite-raturwissenschaft, die sowohl auf die Struktur des Wissens verweisen als auch den disziplinären Habitus prägen. Sie stecken die Grenzen der Subdisziplinen und Gruppen im Inneren der Community und bestimmen die Grenze nach außen .
Der Blick auf den Text oder die Ideologie der Lektüre
Beginnen wir mit einer Szene aus einer literaturwissenschaftlichen Vorlesung. Auf einer Folie zeigt die vortragende Professorin den HörerInnen die Kopie einer Buch-seite aus dem 16. Jahrhundert, die sie mit "diese Schrift ist ein kostbares Dokument für unsere Disziplin" kommentiert. Ihr Thema sind Werke und Autoren der Renais-sance. Mit Hilfe von Abbildungen von Drucken und kunsthistorischen Gegenständen wird Literaturgeschichte besprochen. Die Professorin kommentiert eine Folie mit la-teinischen Schriftzügen mit der Aussage, "Schriften geben uns Auskunft" . Das Schriftstück, das nicht im Original, sondern nur als Kopie und Overheadfolie zu se-hen ist, enthalte "wichtige Information über die damals erst entstehende Disziplin".
In einer Vorlesung, die am Tag darauf am Institut für Germanistik angeboten wird, erleben die ZuhörerInnen eine weitere Vorstellung vom Umgehen Text. Die Entwürfe zu einer Ästhetik und Poetik der Autoren Friedrich von Schiller und Johann Gott-fried Herder , beide vom Vortragenden als "maßgebliche Autoren und Theoretiker des 18.Jahrhunderts" bezeichnet, werden von ihm in Auszügen mündlich aus den Unterlagen zitiert. Hier wird ebenfalls Literaturgeschichte betrieben, allerdings ohne Bilder, Folien und Archive. Im Anschluss an die inklusive der genauen Literaturanga-ben und Punkte korrekt vorgelesenen Zitate setzt der Vortragende mit eigenen Aus-führungen fort, die sich auf die Textstellen beziehen. So kommentiert er den Text. Die HörerInnen erleben einen Vortrag, der zwischen den vorgelesenen Zitaten aus dem Werk Schillers, den eigenen Formulierungen des Vortragenden und weiteren Zitaten weiterer Autoren, hin und her springt. Nur wenige Namen, Werktitel und Be-griffe werden währenddessen an der Tafel notiert.
Wie kommt das an? Diesen Sprüngen zwischen den unterschiedlichen Texten und AutorInnen, Zeiten und Satzstilen immer zu folgen, fällt sichtlich nicht allen Zuhöre-rInnen leicht, zumal der Vortragende schnell und zügig spricht. Aber niemand unter-bricht ihn, es herrscht Einverständnis beim Mitschreiben. Daran, dass der Ausgangs-text von Schiller nur sehr "zerstückelt" referiert wird, nimmt niemand Anstoß. Beim Hören entsteht so der Eindruck eines Geflechts aus vielen parallelen Stimmen, das u.a. Schillers Sätze wiedergibt, und darüber hinaus sowohl Ausschnitte aus philoso-phischen Werken der Epoche als auch Ausschnitte aus Forschungsliteratur aus den vergangenen 10 bis 15 Jahren zitiert. Diesen Eindruck erwecken auch fach-wissenschaftliche Darstellungen. Mündliche und schriftliche Darstellung des Kom-mentars unterscheiden sich kaum.
Die beiden Ausschnitte aus literaturwissenschaftlichen Vorlesungen zeigen zwei un-terschiedliche Haltungen einem Text gegenüber. Beide aber verbindet eine grundle-gende Vorannahme, die den praktizierten Lesarten gewissermaßen a priori voran-geht: Die Annahme, dass bestimmte Texte einen tieferen, auslegbaren Sinn und so-mit eine höhere Qualität besitzen, und dass sie dies vor anderen Texten mit Wert auszeichnet. Dies hermeneutische Paradigma kennzeichnet das literaturwissen-schaftliche Feld nach wie vor, obwohl sich mit strukturalistischen und kulturwissen-schaftlichen Positionen parallele Interpretationsperspektiven entwickelt haben.
Lektüren setzen Grenzen
Während seiner Ausführungen zu Schiller gibt der Vortragende aus Beispiel 2 den Hinweis auf "eine ganz wichtige These, darauf baut auf, was wir tun, [die These:] dass Texte Gehalt haben." Ohne die hermeneutische Methode nun näher zu er-läutern (sie wird als kollektives Wissen vorausgesetzt) kommt er zu einem Wertungs-kriterium literaturwissenschaftlichen Lesens: "der innere Wert der Texte ist Voraus-setzung für Hermeneutik" (PL5/1). Mit diesen Worten steckt er die Grenze zu alterna-tiven Lesarten ab, deren Ziel etwa die Auslegung des sozialhistori-schen kulturellen Hintergrunds (eine weitere disziplinäre Lesart) oder die persönliche Unterhaltung, und nicht die philologische Sinnauslegung, darstellt.
Die Autorität literaturwissenschaftlichen Wissens basiert auf dem grundlegenden Ausschluss anderer Lektürestile. Die Praxis der "Profis" wird von den Praktiken "nor-maler" Leser verschieden inszeniert. So kann erst nach einem "Bruch" mit dem vor-universitären Lektürestil (Einführungsproseminare sind der institutionalisierte Schau-platz hierfür) in den professionellen der Community eingeführt werden.
Pierre Bourdieu nennt diesen Glauben an eine tiefer gehende Lese-weise, die das Feld der Literaturwissenschaft kennzeichnet, die "Ideologie der Lek-türe" . Der Glau-be an das unerschöpfliche Kunstwerk oder an die Offenheit eines literarischen Tex-tes ermöglicht erst und bringt die spezifischen Lektürepraktiken der Disziplin hervor. Die wiederholenden und sich variierenden Kommentare der Wissen-schaftlerInnen machen dabei die Texte zu dem, als was sie betrachtet werden. Sie tragen zur Pro-duktion von "Literatur" bei. "Literatur" ist das, worüber in disziplinären Diskussionen verhandelt werden muss. Hier wird entschieden, was als literarisch gilt und nach wel-chen Kriterien über die Aufnahme in den literarischen Kanon, entschie-den werden kann. Der Akt des Wertens und Ausschließens bestimmter Textsorten aus der Lektü-re stellt das, was als "Literatur" Aufnahme in die Hände der Institution Literaturwis-senschaft und in den von ihr erstellten und bewahrten Kanon findet, per-manent selbst her. Die unabschließbare Diskussion über den Kanon ist konstitutiv für die Disziplin und wird ständig von ihren VertreterInnen erneuert und neu angefacht, da sie sowohl symbolisches wie materielles Interesse am Weiterbestehen des diszi-plinären Archivs haben. Wobei der Kanon eine doppelte Dimension besitzt: als Spei-cher historisch wertvoller materieller Dokumente (Bücher, Flugblätter, Schriftblätter, Manuskripte etc.), und als Sammlung von literarischen Werken, die für das kulturelle und historische Selbstverständnis einer Gesellschaft als bedeutend eingeschätzt werden.
In beiden Beispielen aus Vorlesungen finden wir wertende Stellungnahmen über den behandelten Text. Die Begriffe "wertvoll" und "maßgeblich" weisen auf eine wertende Haltung literaturwissenschaftlichen Praktizierens hin. Die Frage, nach welchen Krite-rien ausgewählt werden soll, ist ebenfalls unabschließbar und konstitutiv für die Wis-sensproduktion. Die Kriterien literarischer Wertung variieren. Während die Vortra-gende im ersten Beispiel vor allem materi

Item Type: Other
Uncontrolled Keywords: graduiertenkonferenz, kulturwissenschaften
Subjects: Kulturwissenschaften, cultural studies > Graduiertenkonferenz: Wissenschaftskulturen - Experimentalkulturen - Gelehrtenkulturen
Depositing User: Caroline Gay
Date Deposited: 06 Dec 2020 12:32
Last Modified: 06 Dec 2020 12:32
URI: http://sammelpunkt.philo.at/id/eprint/2139

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