ZPPS, Band 4 (1937), Heft 3(14), S. 228-230
Besprechung:
Léon Trotski: La révolution trahie, Paris: Grasset 1936
(Leo Trotsky: The Betrayed Revolution, London: Faber & Faber 1936)
Victor Serge: Destin d'un révolution, Paris: Grasset 1936
Diese beiden Bücher sind wohl einige der umfassendsten Untersuchungen der Entwicklung in der Sowjetunion in den letzten Jahren und bringen eine Fülle von Material zum Beweis für die These, dass Russland sich immer stärker vom Sozialismus wegentwickelt, weil die Bürokratie und die bevorzugten Schichten, auf die sie sich stützt, andere Interessen haben als die breiten Massen und deshalb in
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einen Gegensatz zu diesen treten und so den Weg zu einer neuen Klasseneinteilung einschlagen, ohne dass diese sich jedoch vorderhand voll herauskristallisiert hätte.
Für uns ist hier von besonderem Interesse, was Trotzki und der belgische Kommunist, der bis vor einem Jahr Gelegenheit hatte, die Entwicklung selbst mitzuerleben, uns über Dinge wie Stellung der Frau, Familienleben, Sexualleben der Jugendlichen und Prostitution zu sagen haben. Das Material leidet darunter, dass diese Dinge, wie sich aus der Einstellung der beiden Autoren von selbst ergibt, nur nebenbei angeschnitten und nicht zum Gegenstand gesonderter Untersuchung gemacht werden. Doch ergibt sich trotzdem für uns manches Interessante.
Ausgangspunkt für die rückschrittliche Entwicklung der Familienverhältnisse ist für Trotzki die Abschaffung der Brotkarten Anfang 1935. Seit diesem Zeitpunkt wenden die besser bezahlten Arbeitnehmer sich immer mehr von der "gesellschaftlichen" Ernährung ab und kehren zu dem dank ihrer hohen Löhne immer besser versorgten Familienmittagstisch zurück. Das bedeutet in Zusammenhang mit der immer schlechter werdenden Bezahlung für Frauenarbeit eine neue Bindung der Frau an den Kochtopf, besonders in den Schichten, wo der Mann genug verdient, um hochwertige Nahrungsmittel sich kaufen, aber nicht genug, um sich Dienstboten leisten zu können, deren Zahl übrigens immer zu- und deren Entlohnung immer abnimmt. Die Festigung der Familienbande nimmt auch auf dem flachen Lande zu: "Der Kolchos liefert durchwegs dem Landwirt nur Getreide und Futter für sein Vieh. Fleisch, Milcherzeugnisse und Gemüse entstammen fast vollständig dem Privateigentum der Kolchosmitglieder. In dem Moment, wo die wichtigsten Nahrungsmittel Früchte der familiären Arbeit sind, kann von Kollektivernährung keine Rede mehr sein". (Trotzki).
Mit der wirtschaftlichen Festigung der Familie geht eine ideologische Festigung derselben einher, und das ist kein Zufall: "Das drängendste Motiv für den augenblicklichen Familienkult ist ohne jeden Zweifel der Bedarf der Bürokratie nach einer festen Rangordnung der gesellschaftlichen Beziehungen und nach einer Jugend, die diszipliniert wird durch vierzig Millionen Heime, die der Obrigkeit und dem Regime als Stützpunkte dienen". (Trotzki) Kurz, die Familie ist auch hier die "Urzelle des Staates", genau wie in den bürgerlichen Ländern.
Diese wiedererstarkte Familienwirtschaft weist auch dieselben Schattenseiten auf wie in den kapitalistischen Ländern. Die "Vernunftehe" lebt wieder auf: "Der Beruf, das Gehalt, die Stellung, die Anzahl der Streifen auf dem Ûrmel gewinnen immer steigende Bedeutung, denn Dinge wie Schuhe, Pelze, Wohnungen, Badeeinrichtung und -- höchster aller Wunschträume -- Auto hängen davon ab. Allein der Kampf um ein Zimmer vereint und entzweit in Moskau jedes Jahr nicht wenige Paare. Die Verwandtschaftsfrage hat eine ausserordentliche Bedeutung erlangt. Es ist bedeutsam, als Schwiegervater einen Offizier oder einen einflussreichen Kommunisten zu haben, als Schwiegermutter die Schwester eines grossen Tiers." (Trotzki)
Hand in Hand mit der Wiedererstarkung der Familienbande geht ein Wiederaufleben der Prostitution, von der Trotzki sagt: "Es kann sich nicht um ein berbleibsel der Vergangenheit handeln, denn die Prostituierten rekrutieren sich aus den jungen Frauen." Serge will diese Erscheinung vor allem mit "der sehr niedrigen Entlohnung der überwältigenden Mehrheit der jungen Frauen" erklären, die die Mädchen auch veranlasst, "gut verdienende Heeresangehörige oder Parteimitglieder zu heiraten." Ein besonders trauriges Kapitel sind die grausigen äusseren Umstände, unter denen die Prostitution, weil illegal und wegen der Wohnungsnot, arbeitet.
Einen Eindruck von dem Ausmasse der Prostitution, die nach Serge noch weit hinter der anderer Länder zurückbleibt -- wegen der Konkurrenz der Nichtprofessionellen -- gibt eine von Trotzki zitierte Meldung in den «Iswestija», nach der bei einer der in den Grossstädten der Union üblichen nächtlichen Razzien in Moskau fast 1000 Prostituierte auf einen Schlag verhaftet worden sind, wonach ihnen nach Serge administrative Verbannung nach dem Norden oder nach Sibirien droht.
"Die Mädchen führen ihre Freier in dunkle Hinterhöfe, halb abgerissene Kirchen, finstere Gänge, verlassene Gärten, Rumpelkammern. Nachtwächter werden verhaftet, weil sie ihnen Windfangwände von grossen Geschäftsportalen stundenweise vermietet haben. Badeanstalten sind manchmal ihre Zufluchtsorte. Man sieht Trustchauffeure nachts ihre Wagen anbieten."
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Über die Sexualverhältnisse im allgemeinen gibt Serge folgende Pauschalansicht an: "Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind einfach und eher gesund trotz der Brutalität, die der junge Mann oft aufweist, der falschen Verachtung für kleinbürgerliche Vorurteile, der wirklichen sexuellen Freiheit (Les rapports entre les sexes y sont simples, plûtot sains, malgré la brutalité souvent affectée du jeune mâle, le faux dédain des préjugés petits-bourgeois, la réelle liberté sexuelle). Die gemeinschaftliche Erziehung in allen Instanzen ergibt im grossen ganzen gute Resultate. Man bemüht sich um einander, man liebt sich, und die Zahl der glücklichen Verbindungen ist sicher nicht geringer als anderswo. Die Jungfräulichkeit hat einen Teil ihres Werts verloren, ohne dass die Eifersucht merklich nachgelassen hätte. Arm wie sie ist, ist diese Jugend ganz von dem Kampf ums Dasein beansprucht. Sobald sie einigermassen vor dem Hunger sicher ist, denkt sie an die Kleidung, die Koketterie stellt ihre Ansprüche, und nach dem Vorbild, das die Privilegierten ihr geben, bemüht sie sich, Kleidung und Manieren des Westens nachzunahmen. Ein französisches oder deutsches Modeblatt geht von Hand zu Hand und wird eifrigst diskutiert." Demgegenüber stellt Trotzki von den Privilegierten fest: "Die Laster, die die Macht und das Geld um die sexuellen Beziehungen herum erzeugt, blühen in der Sowjetbürokratie, als stellte sie sich als Ziel, die Bourgeoisie des Westens einzuholen."
Was die Auswirkungen des Abortverbotes betrifft, so bringt Trotzki eine Nachricht, nach der "195 von Engelmachern verstümmelte Frauen", davon 33 Arbeiterinnen, 28 Angestellte, 65 Kolchosbäuerinnen und 58 Hausfrauen die Jahresernte für 1935 von einem einzigen Dorfkrankenhaus im Ural gewesen ist.
lei.