ZPPS, Band 5 (1938), Heft 1 (15), S. 13-23
Gunnar Leistikow:
Wem nützt die Sexualmoral ?
Der folgende Artikel erschien ursprünglich in der Zeitschrift der dänischen sexualpolitischen Organisation «Sex og Samfund». Wir drucken ihn ab, um ihn international zugänglich zu machen.
So sehr wir mit dem Inhalt und der sachlichen Darstellung einverstanden sind, müssen wir feststellen, dass die Antwort auf die grosse Frage der universellen Sexualunterdrückung der Menschheit im vorliegenden Artikel zu eng gefasst ist. Zwar ist richtig, dass letzten Endes einige wenige Kapitalisten enormen materiellen Vorteil aus der allgemeinen Sexualunterdrückung ziehen. Doch dies reicht als Motiv nicht aus, um eine so umfassende und Jahrtausende alte Erscheinung der menschlichen Gesellschaft zu erklären. Der Autor bringt nicht genügend zum Ausdruck, dass die Existenz von Privatkapitalisten selbst Folge und Ausdruck objektiver soziologischer Prozesse ist. Eine der Funktionen des Buches [von Reich] «Der Einbruch der Sexualmoral» war gerade die, nachzuweisen, in welcher Weise in der Vorzeit die ausbeuterische Privatwirtschaft sich aus komplizierten sexualökonomischen Vorgängen entwickelte. So wie die Sexualunterdrückung früher da war als die Moral, ging sie auch der Existenz der privaten Ausnützung fremder Arbeitskraft voraus.
Die Redaktion
Wem nützt die Sexualmoral ? Diese Frage wird wohl vielen unter meinen Lesern sonderbar vorkommen. Wir sind mit der Meinung aufgewachsen, dass die Moral etwas über jeden Nutzen und materiellen Vorteil Erhabenes sei, dass Pflichten und Forderungen an die Menschen ihren Inhalt ausmachten. Moralisch handeln soll man um der Sache selber willen, ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust oder persönliche oder andere Vorteile.
Indessen ist der Gedanke eines Nutzens der Moral gar nicht so absurd, wie er zunächst vielleicht erscheinen könnte. Nehmen wir ein Moralgebot wie "Du sollst nicht töten" oder "Du sollst nicht stehlen", so liegt seine Nützlichkeit durchaus klar zutage. Sie besteht in einer Rechtssicherheit, die der Menschheit allgemein zugute kommt. Nehmen wir gewisse moralische Gebote sexuellen Charakters, wie die Forderung, eine erwachsene Person dürfe nicht Kinder verführen oder gar vergewaltigen, so ist auch hier deutlich, für wen ein Nutzen daraus entspringt: für die Kinder, die gegen körperliche und seelische Schädigung beschützt werden sollen. Auch das be-
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kannte sechste Gebot -- "Du sollst nicht ehebrechen" -- verteidigt ein gewisses persönliches Interesse auf Seiten des betrogenen Ehegatten. Wem aber nützt eine der Hauptforderungen der bürgerlichen Sexualmoral: dass nämlich zwei erwachsene, selbstverantwortliche Menschen nicht ohne den Segen der Kirche oder des Standesamts miteinander zu Bett gehen dürfen ? Das ist nicht so leicht einzusehen -- gleichwohl aber muss es jemanden geben, für den solche Vorschriften einträglich sind. Sonst würden so scharfe Forderungen wie die des Verzichts auf die Befriedigung des stärksten von der Natur in den Menschen gelegten Triebes einfach nicht bestehen können.
Gewiss hat sich manches geändert
Hier wird man vielleicht einwenden, dass die Forderung geschlechtlicher Enthaltsamkeit in so unbedingter Form nicht mehr besteht, dass es unmodern geworden sei, sich daran zu halten. Es stimmt zweifellos, dass man in Grossstädten und vielfach auch auf dem Lande nicht mehr so viel Gewicht darauf legt wie vor zwei bis drei Generationen. Jedoch ein Moralgebot handelt nicht von dem, was geschieht, sondern von dem, was geschehen soll oder doch sollte. So ist es für die Gültigkeit einer moralischen Regel nicht wesentlich, ob sie praktisch befolgt wird, sondern ausschliesslich, ob sie nach Ansicht der Leute befolgt werden sollte. Und hier kann kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen: rechnet man nicht die jüngeren, sexuell begehrenden Menschen, sondern auch die älteren mit ein, die schlechtere Chancen für die Befriedigung ihres Triebes haben und daher "griesgrämig" geworden sind -- kurz, wenn man alle "alten Damen beiderlei Geschlechts", wie die Engländer sagen, mit berücksichtigt, so wird die überwiegende Mehrheit es verwerflich finden, ein mit den Triebansprüchen seines Körpers übereinstimmendes Geschlechtsleben zu führen. Es kommt für uns hier weniger darauf an, wo die Grenze gezogen wird: ob man jede geschlechtliche Beziehung ausserhalb der Ehe als unsittlich und unmoralisch ansieht, oder ob man festere, eheähnliche Verbindungen gutheisst. Die öffentliche Diskussion über die sexuelle Frage hat erwiesen, dass weitaus die meisten Leute losere Verbindungen unter anderm und sogar vorzugsweise aus moralischen Gründen verdammen. Jeder, der unsere Ärzteschaft ein wenig kennt, weiss auch, wie schwierig es z.B. für ein 17-18-jähriges Mädchen ist, von einem Arzt ein Pessar zu bekommen, obwohl sie ein geschlechtlich voll ausgereifter, erwachsener Mensch ist, und obwohl ihre Grossmutter vielleicht im gleichen Alter schon verheiratet war und ein von Kirche und Staat gesegnetes und öffentlich anerkanntes Geschlechtsleben führte.
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Enthaltsamkeit und Gesundheit
Wir stehen also der eigentümlichen Tatsache gegenüber, dass die herrschende Moral es verurteilt, wenn zwei erwachsene Menschen so handeln, wie ihre Natur es von ihnen verlangt -- ausser unter ganz besonderen Umständen. Die moderne Sexualwissenschaft zeigt, dass geschlechtliche Enthaltsamkeit nicht nur keinen erweislichen hygienischen Vorzug hat, sondern sogar bedeutende gesundheitliche Gefahren mit sich bringt. Auf jeden Fall kann also nicht behauptet werden, dass die Sexualmoral demjenigen nützt, an den sie sich wendet. So erhebt sich die Frage: "Wem nützt sie denn ? Irgend jemandem muss sie ja Vorteile einbringen, sonst wäre sie längst verschwunden.
Ein wenig Geschichte
Ehe wir diese Frage beantworten können, müssen wir uns diese Sexualmoral ein wenig genauer ansehen. Ist sie in den verschiedenen Ländern in den verschiedenen Zeiten und für die verschiedenen Klassen immer dieselbe gewesen ?
Bei einem flüchtigen Überblick finden wir da die grösste Mannigfaltigkeit. Vergleichen wir etwa den englischen Puritanismus mit der allgemeinen Leichtlebigkeit am französischen Königshof im 17. und 18. Jahrhundert, oder die ausserordentliche Sittenstrenge in Spanien unter den sogenannten katholischen Königen mit der gleichzeitigen Fessellosigkeit der Renaissance in ganz Italien, so sehen wir, dass die Gebote der Sexualmoral sehr ungleich gehandhabt wurden. Auch was man im einzelnen als moralisch oder unmoralisch betrachtete, war recht verschieden. Aber in all diesen Gesellschaften bestand eine lange Reihe gleicher oder paralleler Vorschriften in Bezug auf geschlechtliche Verhältnisse -- ja, diese Übereinstimmungen sind sogar weit grösser und weittragender als die Verschiedenheiten.
Monogamie
Worin bestehen nun diese Übereinstimmungen ? Vor allem wird die lebenslange Einehe zweier Menschen als die höchste, meist sogar als die einzige sittliche Form der sexuellen Gemeinschaft betrachtet. Dieser Gemeinschaft liegt überall eine wirtschaftliche Organisation zugrunde, die durch Arbeitsteilung zwischen den Eheleuten gekennzeichnet ist: der Frau liegt die häusliche Arbeit, dem Mann das Beschaffen des nötigen Geldes ob. Die politische Organisation der Familie, wenn ich mich so ausdrücken darf, ist eine Art Monarchie mit dem Mann als Oberhaupt. Es hängt nur von Zeit und Ort ab, ob diese Monarchie die Form absoluter Alleinherrschaft, unbedingter Diktatur annimmt oder ob die Frau ein grösseres oder geringeres Mitbestimmungsrecht besitzt und das Familienleben daher mehr konstitutionelle und parlamentarische Formen aufweist. ÜberaII, selbst in den demokratischsten Ländern, ist der Mann zumindest primus
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inter pares -- eine vollständige, ausnahmslose Gleichstellung der Frau findet sich nirgends. Dementsprechend herrscht auch überall eine Doppelmoral für Mann und Frau. Von beiden wird eheliche Treue und geschlechtliche Enthaltsamkeit bis zur Heirat gefordert -- aber eine Verletzung dieser Gebote wird bei der Frau viel schärfer beurteilt als beim Manne, und wo Strafbestimmungen bestehen, muss die Frau für ein solches Verschulden immer weit schwerer entgelten. Selbst in den Ländern und zu den Zeiten mit liberaleren Anschauungen über sexuelle Fragen und weniger strenger Beurteilung von Versündigungen gegen die Moral ist die eigentliche Sexualmoral doch immer die gleiche. Selbst im Italien der Renaissance oder am Hofe Ludwigs XVI, wo Jungfräulichkeit junger Mädchen eine Seltenheit war und wo eheliche Treue geradezu komisch anmutete, verlangte die Moral gleichwohl Enthaltsamkeit vor der Heirat und Unantastbarkeit der Ehe. Der Reiz der ständigen losen Verbindungen wurde nicht wenig gerade dadurch erhöht, dass es eben verbotene Früchte waren, die man naschte.
Diese Haupteigentümlichkeiten der Sexualmoral -- Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit vor der Ehe und unbedingter ehelicher Treue, Unterdrückung und Unkenntnis des Sexuallebens der Kinder, doppelte Moral für Mann und Frau -- all das sind keine Besonderheiten der europäischen Kultur. Genau die gleichen Forderungen findet man auf der ganzen Welt, oft sogar in noch weit strengerer Form, wie z.B. bei den Mohammedanern und in Indien und China. Ja, man stösst auf sie sogar bei fast allen primitiven Völkern, selbst wenn die äusseren Formen äusserst verschieden sind.
Ist der Mensch von Natur monogam ?
Kann man daraus nun folgern, dass naturbestimmte Formen menschlichen Zusammenlebens vorliegen ? Viele ziehen diesen Schluss. Besonders konservativ und reaktionär eingestellte Menschen in allen Ländern halten dafür, dass die Frau von Natur ein dem Manne unterlegenes Wesen ist, dass es daher den Naturgegebenheiten entspricht, wenn er verfügt, und dass die als geringwertig betrachtete Hausarbeit Angelegenheit der dem Manne untertänigen Frau ist. In den gleichen Kreisen behauptet man auch, dass die Ehe -- soweit man sie nicht als göttlichen Ursprungs ansieht -- eine nicht von den Menschen errichtete, sondern eine naturbestimmte Institution sei. Zur Stützung dieser Theorie führt man an, dass nicht nur die Menschen, sondern auch verschiedene Tierarten paarweise zusammenleben.
Ist nun diese Auffassung stichhaltig ? Dazu wäre erforderlich, dass die genannten Übereinstimmungen in der Sexualmoral in den verschiedenen Ländern nicht nur meistenorts, sondern ohne jede Ausnahme überall zu finden wären. Ist das der Fall ?
Nein -- das ist nicht so. Es gibt Völker -- freilich nur einige
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wenige -- die eine Unterdrückung des Sexuallebens der Kinder und der unverheirateten jungen Menschen nicht kennen, bei denen das Verhältnis zwischen Mann und Frau ein ganz anderes ist, und die infolge dessen nicht unsere Sexualmoral kennen, sondern ganz andere Regeln für das geschlechtliche Miteinander haben. Und nicht nur sind ihnen unsere Sexualordnung und Moral unbekannt, sondern auch die Schattenseiten, die sie in allen Ländern ihrer Herrschaft ohne Ausnahme begleiten: Prostitution, Perversitäten und neurotische Erkrankungen.
Die Trobriander
Von den meisten Völkern dieser Art wissen wir bislang noch nicht besonders viel, weil die Forscher, die sie beobachtet haben, sich nicht für Sexualfragen interessierten und nur äusserst unvollständige und oft wissenschaftlich unhaltbare Vorstellungen über das Geschlechtsleben der betreffenden Stämme mitbrachten. Wiederum aber haben wir über die Sexualverhältnisse eines dieser Völker sehr reiche und ausserordentlich interessante Aufschlüsse, weil ein polnischer Forscher, Bronislaw Malinowski, der Professor in London ist, sich jahrelang inmitten dieses Volkes aufgehalten und eine Reihe Bücher über sein Sexualleben geschrieben hat. Es handelt sich um die Trobriander, einen melanesischen Stamm, der auf einigen kleinen Inseln in Britisch-Neu-Guinea lebt.
In Europa hat man erst in diesem Jahrhundert entdeckt, dass Kinder ein Sexualleben haben. Früher (und manchenorts heute noch) sah man die Kinder für eine Art geschlechtsloser unschuldiger Engel an und glaubte, dass sexuelle Regungen erst im Pubertätsalter begönnen. Die Trobriander sind uns hierin weit voraus: nicht nur wissen sie vom Sexualleben der Kinder, sie anerkennen es auch durchaus und behindern die Kinder nicht im geringsten in ihren sexuellen Spielen und kleinen Liebeszeugnissen. Da die Häuser der Trobriander keine inneren Wände haben, werden die Kinder unvermeidlich schon in sehr frühem Alter durch ihre eigenen Augen über die Einzelheiten des Sexuallebens der Erwachsenen unterrichtet. Sehr bald, schon im Alter von 6 bis 10 Jahren, beginnen sie auch selber zu versuchen, das Gesehene nachzuahmen. Auch hieran finden ihre Eltern nichts auszusetzen. Wenn die Kinder sich dem Pubertätsalter nähern, haben sie schon einige eigene Erfahrung auf sexuellem Gebiet, und mit der Zeit entwickeln sich ganz zwanglos kürzer oder länger währende Liebesverhältnisse mit dem Partner, der den anderen vorgezogen wird. Die jungen Menschen haben ihre Jungmännerhäuser, in denen mehrere junge Männer mit ihren Freundinnen zusammenwohnen. Ein solches Zusammenleben zieht keine Verpflichtungen nach sich. Es wird aber als dem guten Ton zuwider angesehen, wenn einer der Partner in einer solchen vorläufigen Kameradschaftsehe allzu offensichtlich anderen Umgang
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sucht. Takt und Ton schreiben vor, dass man voneinander wegzieht, wenn das Zusammenleben mit dem betreffenden Partner nicht mehr genügende Befriedigung erbringt. Doch ist dies kein unbedingtes Gebot moralischen Charakters. Hat der Partner gegen die Neigung des andern zur Abwechslung nichts einzuwenden, so zwingt ihn niemand zu einem Bruch.
In der Regel leitet eine länger währende Kameradschaftsehe direkt in eine richtige Ehe über. Diese wird ohne viel Formalitäten eingegangen und kann auch ohne weitere Schwierigkeiten wieder aufgelöst werden. Jedoch sind Scheidungen nicht allzu häufig, da die Ehe nicht eingegangen wird, ehe man einander auch in sexueller Beziehung gründlich kennt und wenn nicht alle Voraussetzungen für ein haltbares Zusammenleben vorhanden sind.
Die Moral bei den Trobriandern
Hiermit soll nun jedoch nicht gesagt sein, dass die Trobriander überhaupt keine Moral kennen. Sie ist nur ganz anders geartet als die unsere und hängt mit der völlig anderen sozialen Organisation dieses Volkes zusammen. Zum Beispiel: Zwei Menschen, die dem gleichen Clan angehören, dürfen zwar geschlechtlichen Umgang miteinander haben, können aber einander nicht heiraten. Sind sie auch vom gleichen Unterclan, so ist das Verbot noch strenger: jede sexuelle Gemeinschaft ist verboten. Strengster Tabu liegt auf der Blutschande zwischen Bruder und Schwester, ebenso zwischen Halbgeschwistern, soweit sie von einer Mutter sind. Haben sie dagegen den Vater gemeinsam, so ist sogar eine Ehe zwischen ihnen möglich.
Um ein noch deutlicheres Beispiel für die von den unsern völlig verschiedenen Moralvorstellungen der Trobriander zu geben: erzählt ein Europäer ihnen von unseren Festen, so stehen ihnen die Haare zu Berge vor Empörung über ein so schändliches und unmoralisches Betragen. Bei den Trobriandern gilt es nämlich als der Gipfel der Unanständigkeit, in Gegenwart eines anderen Menschen zu essen.
Reichs Untersuchungen
Welche Lehren können wir nun aus dem Unterschied in der Betrachtungsweise des Sexuellen bei den Trobriandern und bei den allermeisten andern Völkern ziehen ?
Der Forscher, der diese Frage besonders untersucht hat -- Wilhelm Reich -- macht auf eine spezielle Eigenart der Trobriander aufmerksam. Dieses Volk ist nicht wie die meisten anderen patriarchalisch, sondern matriarchalisch organisiert. Das bedeutet, dass soziale Stellung, persönlicher Besitz und dergl. nicht vom Vater auf den Sohn, sondern über die Mutter vom Mutterbruder auf den Schwestersohn vererbt werden. Das hängt damit zusammen, dass den Trobriandern die Verwandtschaft zwischen Vätern und Kindern unbekannt ist, da sie keinen Zusammenhang zwischen Geschlechtsakt und Ge-
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burt wissen und ihnen folglich der Begriff der Vaterschaft völlig fremd ist.
Reich hat nun einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den ökonomischen Verhältnissen der Trobriander -- sie leben ini sogenannten Urkommunismus --, ihrer mutterrechtlichen Sozialorganisation und ihrem freien Sexualleben nachgewiesen. Ja, dieser Zusammenhang besteht nicht nur bei den Trobriandern, sondern bei allen primitiven Völkern, welche in Urkommunismus und matriarchalisch leben. Reich ist der Meinung, dass Urkommunismus, Matriarchat und sexuelle Freiheit eng zusammengehören und nur im Zusammenhang verstanden werden können. Ebenso hängen auf der anderen Seite Privateigentumsrecht, Patriarchat und Sexualunterdrückung miteinander zusammen.
Urkommunismus und Matriarchat
Reich geht in seinen Untersuchungen von den Trobriandern aus und knüpft dort an, wo Malinowski aufhört. Die Trobriander sind vor anderen matriarchalisch-urkommunistischen Völkerschaften, wie z.B. den Eskimos, besonders geeignet, Reichs Vermutungen zu stützen. Das Matriarchat findet sich bei ihnen nämlich nicht mehr in der ursprünglich reinen Form, sondern in einem Übergangsstadium zum Patriarchat. Im Besonderen finden sich zwei patriarchalische Züge bei den Trobriandern. Erstens kennen sie eine ähnliche Form der Ehe wie die patriarchalischen Völker mit einer entsprechenden Einengung der Geschlechtsfreiheit: Forderung ehelicher Treue nach der Heirat, allerdings ohne dass diese Forderung strenge Geltung hätte. Das zweite ist die Stellung der Häuptlinge. Da die Trobriander, wie gesagt, urkommunistisch leben, kennen sie weder Handel noch Geldverkehr noch Steuern. Die Fischer tauschen einen Teil ihres Fanges mit den Gartenbauern gegen Früchte aus -- andere Formen des Tauschhandels sind praktisch unbekannt. Auf diese Weise kommen weder Reichtum noch Armut zustande, und es findet sich keine Klassenteilung. Nun haben aber die Häuptlinge die Pflicht, bei den grossen religiösen Festen das ganze Volk zu bewirten. Dazu bedarf es aber eines weit grösseren Einkommens, als aus dem eigenen Gartenbau herauszuholen ist. Woher dieses grössere Einkommen nehmen ? Die den Trobriandern einzig bekannte Form arbeitslosen Einkommens sind die Zuschüsse, die ein Mann von der Familie seiner Frau bekommt. Bei den Trobriandern herrscht nämlich die eigentümliche Sitte, dass jeder Mann verpflichtet ist, seine Schwester zu ernähren, indem er alljährlich ihr und ihrem Mann einen bestimmten Teil seiner Ernte abgibt. Hat nun ein Mann als Häuptling besondere Ausgaben und braucht daher auch besondere Einkünfte, so besteht für ihn nur die einzige Möglichkeit, sich mehrere Frauen zuzulegen. Wir sehen daher hier auch die Eigentümlichkeit; dass -- während die Trobriander im allgemeinen nur die Ehe
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zwischen einem Mann und einer Frau kennen -- die Vielweiberei ein Privilegium der Häuptlinge ist. Sie kann hier sogar sehr grosse Dimensionen annehmen: Malinowski berichtet, dass er Häuptlinge mit bis zu 60 Frauen gefunden habe.
Der Häuptlingssohn
Man sieht, dass ein Häuptling mit einer so stattlichen Frauenschar ein recht wohlhabender Herr sein muss, wenn er jährlich von 60 Schwägern Zuschüsse erhält. Und es ist nur natürlich, dass er von all dieser Herrlichkeit einiges seiner Familie zu erhalten wünscht, z.B. einem Sohn, der ihm besonders lieb ist. Da der Sohn indessen nicht erbberechtigt ist, sondern nach trobriandischem Recht der Schwestersohn, wird der Häuptling danach streben, seinen Sohn mit der Tochter seiner Schwester zu verheiraten, da diese ja von ihrem Bruder, dem Erben, ausgesteuert werden muss. Gelingt es, eine solche Vetter-Basen-Heirat zustande zu bringen, so strömt der Wohlstand auf diesem Umwege wieder zur Familie zurück. Solche Heiraten werden nun auch in der Tat von den Trobrianderhäuptlingen energisch angestrebt. Vetter-Basen-Ehen in ihren Familien sind geradezu zu einer Nationaleinrichtung der Trobriander geworden. Zur Sicherung der eigentlich ungesetzlichen Erbfolge vom Vater zum Sohn zögert man nicht, Vetter und Kusine schon als Kinder zu verloben. Und hier treffen wir auf eine äusserst interessante Erscheinung: für eine solche als Kind verlobte Häuptlingsnichte besteht die sonstige ungebundene Sexualfreiheit der Trobrianderjugend nicht ! Von ihr wird sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Hochzeit verlangt, und das gleiche gilt für ihren kleinen Bräutigam. Gewiss ist es in einer so liberalen und toleranten Gesellschaft wie der trobriandischen nicht möglich, die strikte Befolgung des Verbots durchzusetzen. Jeder weiss, dass viele der verlobten Häuptlingskinder ihren Trieben gemäss leben. Aber das muss im Verborgenen geschehen und gilt als unmoralisch.
Für uns ist hier vor allem die Feststellung interessant, dass der erste Einbruch einer sexualfeindlichen Moral in dies freie, ungebundene Geschlechtsleben der trobriandischen Jugend in enger Verbindung mit dem langsam entstehenden Privateigentumsrecht erfolgt. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Unterdrückung des freien Sexuallebens der verlobten Häuptlingskinder erfolgt, um zu verhüten, dass sie an dem Zusammenleben mit einem freigewählten Kameraden soviel Gefallen finden, dass dadurch die von den Eltern gewünschte und für sie so profitable Verbindung in die Brüche geht.
Das beginnende Privateigentumsrecht
Wenden wir nun den Blick von den Trobriandern fort auf einige ihrer nächsten Verwandten und Nachbarn in der Südsee, die eine
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weitere Entwicklungsstufe erreicht und den Urkommunismus durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Produktionsertrag ersetzt haben, so finden wir dort eine absolut sexualverneinende Moral, die keine Spur der Freiheit des Trobrianderstadiums für die Jugend zurückgelassen hat. Und mit der weiteren Entwicklung des Patriarchats sehen wir auch die Sexualunterdrückung immer stärker werden.
Wir können daher mit Reich feststellen, dass Sexualunterdrückung, Privateigentum und Patriarchat zueinander gehören, und dass die Sexualunterdrückung und ihr ideologisches Spiegelbild, die Sexualmoral, eine besondere soziologische Funktion haben: nämlich die Festigung und Stärkung der auf Privateigentum und Patriarchat gegründeten Gesellschaft.
Wie nun das Privateigentum und die patriarchalische politische Organisation der Gesellschaft in den verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten höchst bunte Formen annehmen, so tritt auch die Sexualunterdrückung in äusserst mannigfacher Verkleidung je nach den örtlichen Verhältnissen auf.
Andere primitive Völkerschaften
Bei primitiven Völkern in den tropischen Ländern, die in Hütten wohnen und dauernd im Freien leben, ist natürlich ein Schutz der ökonomisch wertvollen Jungfräulichkeit geschlechtsreifer Töchter durch Einsperren, wie das beispielweise bei den Mohammedanern üblich ist, undurchführbar. Man hilft sich hier nun auch auf andere Weise, mit Mitteln, die uns barbarisch und grausam erscheinen. Zum Beispiel näht man unverheirateten Mädchen die Schamlippen zusammen, um ihnen den Beischlaf unmöglich zu machen. Andernorts setzt man ihre Leidenschaftlichkeit künstlich durch Abschneiden des Kitzlers herab. Bei wieder anderen Völkern greift man nicht zu solchen Operationen, sondern schreckt die Menschen von vorehelichem Verkehr durch Androhung von Todesstrafen oft denkbar grausamster Art ab. Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur noch einmal unterstreichen, dass alle die mannigfachen Formen der Sexualunterdrückung und grausamer Pubertätsriten nur bei patriarchalisch organisierten Völkerschaften gefunden werden, bei denen die Ehe vor allem eine Produktionseinheit und die Frau ein Anhängsel einer Mitgift ist. Für alle Völker gilt, dass das Bewusstsein des Sinnes dieser Sexualunterdrückung vollständig verloren gegangen ist und die an sich unverständlichen und schmerzbereitenden Gebräuche mit religiösen Argumenten begründet werden.
Wir sahen, wie die Sexualunterdrückung in die Welt kam und welches ihr Sinn war. Wie steht es nun mit der Sexualmoral ? Die Sexualmoral ist, wie gesagt, eine Art ideologischen Spiegelbildes der äusseren Unterdrückung -- aber sie ist mehr als nur das. Sie ist eine Kraft, die in den Menschen steckt, an die sich wendet, und sie
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verhindert zu tun, was die Natur von ihnen verlangt. Eine ungeheure Kraft muss das sein, wenn sie einen der stärksten Naturtriebe in Schach halten kann, und dort, wo sie unterliegt, immer noch Angst, böses Gewissen und stärkste Seelenqualen hervorzurufen imstande ist.
Die moralische Kraft
Woher stammt diese unerhörte Seelenkraft ? Auf diese Frage antwortet uns die moderne Psychologie: diese Kraft ist nichts anderes als verwandelte Sexualenergie. Die geschlechtliche Energie, die stärkste im Menschen, hat nämlich die eigentümliche Fähigkeit, sich umformen zu können, wenn das eine oder andere Hindernis ihre freie Abfuhr unmöglich macht. Lassen äussere Umstände ein normales, natürliches Sexualleben nicht zur Entfaltung kommen, so schlägt die Sexualität in ihr Gegenteil um: in Sexualangst. Und diese Sexualangst wiederum zeigt sich in verschiedenster Gestalt. Die häufigsten Formen sind auf der einen Seite eine gefühlsbetonte, sexualverneinende Moral, die aus der Not eine Tugend macht und proklamiert, dass freie sexuelle Entfaltung -- bald aus diesen, bald aus jenen Gründen -- verwerflich sei, auf der anderen die vielen neurotischen Erkrankungen, von denen in unserer kapitalistischen Gesellschaft so ziemlich jeder Mensch geplagt wird.
Diese umwegige Auslösung der Sexualität in Form sexualverneinender Moral und neurotischer Leiden ist vom kapitalistischen Standpunkt aus von allerhöchster gesellschaftserhaltender Bedeutung. Es ist durchaus nicht zufällig, dass es gerade die kapitalistisch interessierten reaktionären Kreise sind, die das Banner der Moral hochhalten und verhindern, dass die Erkenntnisse der modernen Sexualwissenschaft Gemeinbesitz aller werden.
Privateigentum und Sexualunterdrückung
Auf dreierlei Art vor allem tritt die Sexualunterdrückung und damit die sexualverneinende Geschlechtsmoral in den Dienst des Privateigentumsrecht, heute also der kapitalistischen Gesellschaft.
Erstens schwächt sie die Widerstandskraft der ökonomisch unterdrückten und ausgebeuteten Gesellschaftsklassen, indem sie jeden Einzelnen sich mit einem ungeheuren, nahezu unüberwindlichen Problem herumschlagen lässt: mit der sexuellen Frage. Zweitens wird mit Hilfe eines riesigen Propagandaapparats erst in der Familie selbst, dann in der Schule und schliesslich auf alle mögliche Weise draussen im Leben ein sehr bedeutender Teil der Sexualenergie der Massen zum Kampf gegen die Sexualität mobilisiert: es wird den Menschen eingebläut, dass die Sexualität etwas Hässliches und Sündiges sei, dessen man sich eigentlich schämen müsse und an das man am besten gar nicht denken sollte. Auf künstliche Weise werden gewisse Organe und ihre Funktionen den Menschen verekelt, so dass sie sich erst ein Herz fassen müssen, um die Dinge auch nur bei
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ihrem rechten Namen zu nennen. Geschieht dies aber schliesslich doch unter Einhaltung grosser Vorsicht, so sollen möglichst unverständliche lateinische Bezeichnungen gebraucht werden; denn die einfachen im Volke üblichen Namen sind durch den jahrhundertelangen Aufenthalt im Dunkeln und in lichtscheuen Winkeln "unanständig" und "hässlich" geworden.
Die idealen Untertanen
Die sexualfeindliche Erziehung mit ihrer Herabwürdigung natürlicher Prozesse wie der Entfernung der Abfallprodukte des Körpers, also mit ihrem Erwecken von Ekel- und Angstempfindungen gegenüber bestimmten Körperteilen, mit ihrem strengen Verbot der Onanie, der natürlichen Form des Sexuallebens des Kindes, mit ihrer ständigen Vertiefung eines naturwidrigen Risses zwischen den Generationen und ihrer Vergottung des Vaters als unantastbarer Autorität, ihrem Mangel an Verständnis für die besonderen Bedürfnisse des Kindes, was Bewegung, Wissbegier, Schaffensdrang betrifft -- diese Erziehung bringt beim Kinde eine ganz eigentümliche seelische Struktur zustande, die es lebenslang beibehält und durch die Erziehung der nächsten Generation auf diese überträgt. Diese seelische Struktur ist bei nach bürgerlicher Anschauung wohlgelungener Erziehung gekennzeichnet durch Ängstlichkeit, Autoritätsglauben, Fügsamkeit, Unselbständigkeit im Denken, Kritiklosigkeit, Geniertheit, Unbeholfenheit, Minderwertigkeitsgefühl. Kurz: sie lähmt jede persönliche Initiative und macht die Menschen gerade zu dem, was die kapitalistische Gesellschaft braucht: zu den idealen Untertanen, die zum Bestehenden halten und weiter nichts wollen als Ruhe und Ordnung.
Wem nützt die Sexualmoral ?
Drittens endlich führt die Annahme der bürgerlichen Sexualmoral durch die Massen nicht nur dazu, dass diese Massen selbst für diese Moral eintreten, sondern dass sie auch ihre eigene ökonomische und politische Unterdrückung bejahen. Das Letztere geschieht vorzugsweise auf dem Umwege über Religion und Kirche, die überall zu den stärksten Stützen der bestehenden Gesellschaftsordnung gehören. Sie lehren die Menschen, gehorsame und treue Untertanen zu sein, die alle Schickungen als gottgesandt annehmen. Der liebe Gott wird schon wissen, zu was dies oder jenes Unglück gut ist !
Nunmehr sind wir imstande, unsere grosse Frage zu beantworten: wem die Sexualmoral nützt. Sie nützt denselben, denen auch die herrschende kapitalistische Gesellschaftsordnung nützt: wenigen herrschenden Grossen, die auf Kosten der vielen unterdrückten Kleinen wohlleben.