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ein paraphilosophisches Projekt nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit |
Band 2, Heft 2 (6) (1935)
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ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S.103-129
Karl Teschitz
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Wilhelm Dornemann, Hagen i.W. Entmannte Männlichkeit. Vor kurzem hat ein Volkskenner über unsere Zeit etwa so geurteilt: Das moderne Weibliche siegt immer mehr über das Männliche, der Genuss über die Sittlichkeit, die Weichlichkeit über den Heldengeist. Hat dieser Mann nicht recht? Wir haben heute in der Tat weithin eine entmannte Männlichkeit mit allen ihren Auswirkungen.Wo wir hinschauen, sehen wir das Vordringen eines modernen Dirnengeistes. Sinnlich, eitel, anmassend und aufdringlich ... Diese lüsternen Mädels, die auf den Strassen umherschwänzeln und -tänzeln, rechnen offenbar mit der inneren Schlaffheit der jungen Männer. Denn sie würden gewiss nicht immer ihre Beine zur Schau bringen, sich nicht beständig an ihrem Bubikopf zu schaffen machen und nicht dauernd ihre begehrlichen Augen umherwandern Iassen, wenn sie nicht wüssten, dass solches Gebahren auf die jungen Männer Eindruck macht ... Aber gibt es denn keine harmlose Freundschaft zwischen einem Jüngling und einem Mädel? -- Die "Freundschaften", die so "harmlos" beginnen, werden gar sehr schnell zu schwärmerischen Liebschaften. Und diese frühen Liebschaften zerstören viel Gutes und Edles im Seelenleben tausender junger Menschen, weil sie für eine gottgewollte echte Liebe noch nicht reif sind ... Diese törichten Liebeleien, die häufig den Grund für soviel Unglück im späteren Leben legen, wären nicht möglich, wenn wir ein straffes, reines, ritterliches Jungmannesgeschlecht hätten. ... Tausende von jungen Männern, die sich in unseren christlichen Jungmännervereinen im Deutschen Sittlichkeitsbunde vom Weissen Kreuz (Sitz Nowawes bei Potsdam, Heinestrasse 1) zur gegenseitigen Stärkung und zum Kampf für ihre Altersgenossen zusammengeschlossen haben, stehen in diesem Erleben. Sie haben ihre Reinheit, Kraft und Mannhaftigkeit von Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heiland. Er will auch Dir Deine Schuld vergeben, wenn Du aufrichtig zu ihm kommst. Er will auch in Dir die Macht der Sünde brechen, wenn Du ihm aufrichtig nachfolgst ... |
Doch die Kirche wäre die raffinierte Institution nicht, die sie ist, würde sie sich auf eine derart unverblümte Propaganda der Sexualunterdrückung beschränken. Sie verfährt viel geschickter, trifft zugleich viel mehr Fliegen auf einen Schlag mit ihrer Sündenlehre. Um
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ihr Wesen zu erfassen, tun wir gut, von einem Zitat aus dem 7ten Kapitel des Römerbriefs des Apostel Paulus auszugehen:
"Die Sünde erkannte ich nicht, ausser durch das Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Begierde, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Da ergriff aber die Sünde die Gelegenheit des Gebots und erregte in mir alle Begierde. Ausserhalb des Gesetzes ist die Sünde tot. Ich aber lebte einst ohne das Gesetz. Als aber das Gebot kam, lebte die Sünde wieder auf ...
... Das Gesetz ist ja heilig und das Gebot ist heilig, recht und gut ...
... Wir wissen, dass das Gesetz geistig ist. Ich bin aber fleischlich und unter das Gesetz der Sünde verkauft. Was ich tue, weiss ich nicht. Nicht das tue ich nämlich, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich das tue, was ich nicht will, so gebe ich doch zu, dass das Gesetz gut ist. Nun [tue] nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde ...
Ich weiss nämlich, dass nicht in mir, das heisst in meinem Fleisch das Gute wohnt. Das Wollen steht nämlich zu meiner Verfügung, das Vollbringen des Guten aber nicht. Nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, tue nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde ...
... Ich freue mich also an Gottes Gesetz dem inneren Menschen nach, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz in meinem Verstand widerstreitet und mich gefangen nimmt im Gesetz der Sünde in meinen Gliedern.
Ich unglücklicher Mensch ! Wer wird mich aus diesem Todesleib herausreissen? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn."
Diese berühmte Paulusstelle gibt wahrheitsgetreuer als manche philosophische Abhandlung die psychische Situation des Menschen in der auf Triebunterdrückung gegründeten Klassengesellschaft wieder. Die Einschränkung der sexuellen und aggressiven Regungen (das Gesetz) kommt von aussen, ist gesellschaftlich bedingt. Paulus sagt an einer anderen Stelle (im Galaterbrief), das Gesetz sei zwischendurch -- u. zw. seit Moses -- hereingekommen und meint damit ganz richtig, dass es nicht ewig sondern historischen Ursprungs sei.
Erst die Einschränkung aber erzeugt, sobald sie verinnerlicht wird (das Gesetz in meinem Verstand), Angst und böses Gewissen: Denn einerseits nehmen die unterdrückten Triebe infolge der Aufstauung der vegetativen Energie nun einen sadistischen und perversen Charakter an, den sie ursprünglich gar nicht besassen: Der enthaltsame Jüngling z.B. phantasiert davon, alle Mädchen zu vergewaltigen, eine Phantasie, die sich dem sexuell befriedigten Menschen gar nicht aufdrängt. Diesen künstlich entstellten, von Reich sogenannten sekundären Trieben nachzugeben, erscheint aber in der Folge doppelt gefährlich. Und das umso mehr, wenn der ursprüngliche Anlass der Triebeinschränkung nicht mehr erinnert werden kann, nach einem von der Psychoanalyse aufgedeckten Gesetz der Verdrängung verfällt und nur mehr als geheimnisvolle "Stimme des Gewissens" im Innern wirkt. "Die Sünde" ist nichts anderes, als der entstellte, mit schlechtem Gewissen belastete Triebanspruch in uns selbst. Doch diese Sünde ist unvermeidlich: Der aus biologisch bedingter Energie gespeiste Triebanspruch (das Gesetz in meinen Gliedern) setzt sich immer wieder -- und wenn auch in noch so verstellter Form -- gegen das Gesetz im Verstand durch. Und erst
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die Vorstellung von der Gnade Christi, die die Kirche verkündigt, schafft dem bedrängten Gewissen wenigstens auf eine Zeit lang Ruhe.
Aber fragt man die Kirche nach einer genauen inhaltlichen Bestimmung dessen, was Sünde ist, so wird man keine klare Antwort erhalten.*) Die geläufige Antwort nämlich: "Verstoss gegen den in der heiligen Schrift geoffenbarten Willen Gottes" liefert uns völlig der Interpretation aus, die die Theologen dieser sehr vieldeutigen Offenbarung jeweils geben.
Sehen wir uns diese Interpretation etwas näher an. Da steht auf der einen Seite die Aufgabe, das Evangelium der jeweiligen Klassenmoral anzupassen. Der Werktätige, der hungert und sich unterdrückt fühlt, soll auf politischen Kampf verzichten, gehorsam dem Wort: Seid untertan der Obrigkeit. Aus diesem Gehorsam heraus muss er im Fall eines Krieges auch zu den Waffen greifen; aber nicht nur aus Gehorsam, sondern auch aus Liebe zu seinen Nächsten, die er mit der Waffe in der Hand gegen den bösen Feind beschützen muss (gilt natürlich nicht für den Klassenkampf !). Von hier aus rechtfertigt die Kirche auch den Nationalismus, bejaht die "nationalen Werte" der Familie, der Heimat, des Volkstums. Und demjenigen, der sich in der so bestimmten Ordnung der Welt nicht zufrieden fühlt, verspricht sie das Gottesreich, das nicht von dieser Welt sei. In dieser Welt nämlich zieme dem Menschen Demut -- aber vor arlem auch Keuschheit ! Ausserehelicher Geschlechtsverkehr ist als "Hurerei" ebenso verpönt wie Onanie und wie -- im Bereich der katholischen Kirche -- Ehescheidung. Doch diesen Katechismus der bürgerlichen Moral versüsst das Christentum mit illusionärer Bejahung sozialistischer Wünsche und Sehnsüchte: Politischer Kampf ist zwar verboten, aber es heisst trotzdem: "Wehe den Reichen", "ein Kamel geht leichter durch ein Nadelöhr als ein Reicher durch die Pforte des Himmelreichs eingehe." Der tatsächlichen Unterstützung aller Kriegsvorbereitung - man denke nur an die aktive Rolle der Priesterschaft bei der Mobilisierung Abessiniens, um ein aktuelles Beispiel zu geben -- steht die Friedensbotschaft des Christentums gegenüber: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden." Die Friedensschalmei bläst die Kirche immer dann sehr geschickt, wenn es nicht gefährlich ist. Trotzdem weiss sie der Massensehnsucht nach internationaler Verbrüderung entgegenzukommen: "Gehet hin und prediget allen Völkern" heisst es im Matthäusevangelium. -- Nur in den Fragen der Sexualethik hat die Kirche der Klassenmoral, die sie predigt, nichts entgegenzustellen, was wenigstens in der IIlusion die Sexualität
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*) Ein scharfsinniger Theologe (Bultmann in der Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft, 1924) hat das Bestehen einer besonderen christlichen Ethik zum Schrecken weniger scharfsinniger Berufskollegen überhaupt geleugnet. Für den Christen bestehen keine anderen ethischen Forderungen als für den Nichtchristen, nur stellt der Christ sie "unter Gottes Gehorsam", d.h. er fasst sie als Gottes Forderungen auf.
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bejahen würde. Die Kirche kann niemals die Sexualität bejahen, sondern nur die -- Fortpflanzung.
Das Christenturn, wie es die Kirche predigt, hat auf diese Weise eine ähnlich widerspruchsvolle Struktur wie der Nationalsozialismus. Die Durchsetzung der bürgerlichen Wirklichkeit wird erleichtert durch Bejahung der sozialistischen Illusion. Und diese Bejahung ermöglicht der Kirche ein ungeheuer geschmeidiges Lavieren, sie vermag sich auf diese Weise bei einiger Geschicklichkeit stets als Anwalt der jeweiligen Massensehnsucht hinzustellen.
Doch kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, der Sündenlehre zurück ! Man könnte vielleicht meinen, die Verschwommenheit und innere Widersprüchlichkeit dessen, was "Sünde" inhaltlich sei, würde ihre Wirkungskraft beeinträchtigen ! Aber gerade umgekehrt ! Gerade diese Verschwommenheit bedingt die massenpsychologische Wirkungskraft des Sündenbegriffs. Von tausenden Kanzeln werden die Gläubigen jeden Sonntag angedonnert: "Die menschliche Natur ist von Geburt an verworfen und böse, ihr seid sündig !" Jeder kleine Mann kann sich zu dieser Melodie seinen eigenen Text machen: Denn sollte er sich etwa zufällig von "Sünde" frei fühlen, so wird ihm gesagt, dies sei ein Zeichen besonderen Hochmuts, besonderer Verstocktheit. So wird er getrieben, in seinem Gewissen zu bohren und zu forschen, die an sich harmloseste Handlung, den von jeder Realisierbarkeit weit enfernten Tagtraum unter die Lupe zu nehmen: Schuldig ist ja bereits, wer die Frau des anderen bloss mit begehrlichen Augen ansieht. Denn nicht nur das Tun, sondern auch schon das Wünschen ist verdammenswert, wenn es gegen das -- jeweils gesellschaftlich herrschende -- Gesetz verstösst.
Und dieses Gesetz -- Paulus sagt es selbst -- ist in Wirklichkeit undurchführbar. Zunächst ist es die Sünde der "sexuellen Begehrlichkeit", mit der die Menschheit nicht fertig werden kann, da sich der biologisch bedingte Triebanspruch niemals völlig unterdrücken lässt. Haben aber die Christen ihre sexuellen Wünsche mit Unterstützung der Kirche brav aus ihrem Bewusstsein verdrängt, *) dann schwellen zum Ersatz andere Triebe mächtig an: Selbstsucht ("Narzissmus", um hier den Fachausdruck der Analyse zu nennen, der sich mit dem theologischen Begriff natürlich nicht ganz deckt), Angriffs- und Rauflust (vgl. eingesperrte Tiere), Sadismus. Aber sogleich ist die Kirche da und wettert gegen die Bösartigkeit und Eigenwilligkeit
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*) "Die menschliche Selbstbeherrschung, ich spreche von der gemäss den griechischen Philosophen, fordert dazu auf, gegen die Begehrlichkeit zu kämpfen und ihr nicht hinsichtlich der Werke nachzugeben; unsere Selbstbeherrschung aber verlangt, überhaupt nicht zu begehren: Nicht dass jemand, der schon begehrt, standhaft sei, sondern, dass man über das Begehren selbst Herr werde. Diese Enthaltsamkeit kann man auf keine andere Weise erhalten, als durch die Gnade Gottes." (Clemens Alexandrinus, Stromateis, Buch II, Kap. 7). Diese Kirchenvaterstelle vom Ende des 2. Jahrhunderts zeigt sehr schön den Fortschritt von der äusserlichen Versagung zur Verdrängung, die die Klassengesellschaft historisch gesehen dem Christentum verdankt.
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des Menschen: Und diesmal nicht ganz mit Unrecht. Nur erwähnt sie dabei nicht, dass es sich nun um Triebstrukturen handelt, die erst durch die Versagung künstlich geschaffen wurden.
Politisch wird damit wiederum erreicht, dass mit den irrationalen, in der Tat praktisch unbrauchbaren Regungen der Aggression und des Selbstgefühls zusammen auch rational berechtigte Regungen der Kritik gegen die herrschende Gesellschaftsordnung der Verdammung durch das mobilisierte böse Gewissen ausgeliefert werden. Für die Kirche aber wird damit erreicht, dass die Gläubigen von der unerfüllbaren Forderung ständig in Spannung gehalten werden. Immer wieder müssen sie letzten Endes bei der Kirche, bei der durch ihre Autorität verkündeten, in Christus geoffenbarten Sündenvergebung Trost und Beruhigung suchen: Was die Bindung an die Kirche stets wach erhält.
So werden die Kirchenfrommen zu treuesten Befolgern der bürgerlichen Moral. Ihrem Respekt vor der Autorität, der kirchlichen wie der staatlichen, ihrer Gleichgültigkeit gegen das Fortbestehen sozialer Unterdrückung, ihrer feindlichen Einstellung gegen das kämpfende Proletariat entspricht subjektiv: Sexualscheu, durch ständige Übung im Sich-selbst-beherrschen entstandene Gehemmtheit, Angst vor dem "Chaos" der Revolution, die nichts anderes ist, als die Angst vor den "chaotischen Trieben" in ihnen selbst, die sie ständig niederhalten müssen.
Wo aber wird der letzte Grund zu dieser Haltung gelegt? Religionsunterricht und Sündenpredigt allein können nicht ausschlaggebend sein. Denn das Kind, das ihrer Einwirkung unterliegt, muss ein Stück Schuldgefühl und Angst vor den eigenen Trieben bereits vorher in sich tragen -- andernfalls wird ihm die ganze Religion mit ihrer Sünden- und Gnadenlehre fremd bleiben.
Bei der Beantwortung dieser Frage ergibt sich allerdings folgende Schwierigkeit: Während wir uns bisher auf Erfahrungen und Beobachtungen berufen haben, die die meisten Leser selbst machen können und z.T. auch gemacht haben, so müssen wir jetzt Beobachtungen und Tatsachen heranziehen, die den meisten neu und fremdartig erscheinen werden. Sie wurden an gesunden und kranken Menschen gemacht, die wir in Analyse bekommen und wo durch ein besonderes Verfahren die Erinnerungssperre aufgehoben wird, die uns die Erlebnisse unserer frühen Kindheit verhüllt. Diese Beobachtungen an erwachsenen Menschen sind in der Folge durch direkte Kinderbeobachtungen bestätigt worden.
Der beschriebenen Haltung des Erwachsenen liegt nach diesen Beobachtungen zu Grunde die Unterdrückung der freien und natürlichen Lebensäusserungen des Kindes: Vor allem das Verbot der kindlichen Onanie und der gemeinsamen sexuellen Spiele der Kinder, verbunden mit vorausgegangener zu strenger Reinlichkeits- und Esserziehung.
Das Onanieverbot kann in grober Form durchgeführt werden:
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Schläge, Festbinden der Hände, Drohung: Das Glied wird dir abgeschnitten. Oder in verhüllter Form: Spielen mit den Geschlechtsteilen, Schlafen mit den Händen unter der Bettdecke wird für ungesund erklärt, es "schwächt", Hände in die Hosentaschen stecken sieht nicht gut aus, ist ungezogen, etc.
Das Verbot, das zunächst von aussen kam, wird in der Folge verinnerlicht. Die Personen, Anlässe, bei denen es gegeben wurde, werden vergessen, aus dem Bewusstsein "verdrängt", die meisten Erwachsenen können sich an die damit verbundenen Erlebnisse nicht oder bloss unvollkommen erinnern. Die Wirkung des Verbots aber bleibt als sexualablehnende Ideologie und als Sexualstörung bestehen.
Doch zusammen mit der Onanie werden auch eine Menge anderer natürlicher Lebensäusserungen der Kinder zerstört, die die Erziehung und Beaufsichtigung in dem Milieu der bürgerlichen Familie, so wie es nun einmal besteht, erschweren, die den Eltern Unbequemlichkeiten machen würden. Ziel der Erziehung ist ja "das brave Kind", das niemals in die Hosen macht, niemals nascht, aber auch niemals etwas bei Tisch stehen lässt, das niemals ein unanständiges Wort sagt oder gar "so etwas" tut, das in Gegenwart Fremder nur spricht, wenn es gefragt wird, das mit anderen Kindern nicht rauft, mit einem Wort: Den Eltern in allen Punkten gehorsam ist. *)
Jede Unterdrückung einer freien Lebensäusserung erzeugt, wie die Erfahrung lehrt, Angst oder Wut -- bzw. oft eine gegen die eigene Person gekehrte Kombination von beiden, z.B. Verzweiflung. So entsteht etwa aus dem Verbot der Onanie die Angst vor der Dunkelheit, die meist zur Onanie benutzt wurde, es kann sich auch eine allgemeine Ängstlichkeit entwickeln. Wut kommt zum Vorschein in Reizbarkeit, Schreianfällen, Quälen von Tieren. Doch all diese Charakterzüge müssen dem Kind nun von neuem abgewöhnt werden.
Hier setzt nun die religiöse Erziehung ein. Dem von Ängstlichkeit und Schuldgefühl gegen die Eltern erfüllten Kind erzählt man nun von einem besseren Vater, der zwar auch streng ist -- wie der Vater zuhause -- aber auch liebevoll -- was der Vater zuhause vielleicht nicht ist; der zwar alle Sünden sieht -- und niemand ist ohne Sünden -- aber der zugleich seinen Sohn zur Vergebung der Sünden sendet: Und welchem Kind wird es nicht leicht fallen, zu diesem Sohn eine Beziehung zu finden (der ja auch seinerseits die Kinder
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*) Freud erklärt in »Zukunft einer Illusion« die Religion folgendermassen (vgl. besonders S. 24ff): "Mit den Übermächten der Natur und des Schicksals wird der Mensch dadurch fertig, dass er auf eine ähnliche Situation in der Kindheit zurückgreift: auf seine Hilflosigkeit den Eltern gegenüber. Aus der kindlichen Erinnerung an den Vater schafft er sich die Göttergestalten, die er nicht nur fürchten muss, sondern an die er sich auch vertrauensvoll um Hilfe wenden kann. -- Freud fasst jedoch dabei eine Situation als absolut, die nur in der heutigen Gesellschaft besteht: Nur das "brave Kind" ist den Eltern gegenüber völlig hilflos, nur der sexuell gestörte, neurotische Erwachsene, zu dem sich in der Folge das brave Kind entwickelt, flieht vor den Schlägen des Schicksals in die kindliche Situation den Eltern gegenüber zurück.
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lieb hat und zu sich kommen lässt) -- selbst wenn der Vater fern und unnahbar erscheint.
So führt die religiöse Erziehung das weiter, wozu schon vorher der Grund gelegt war. Sie erleichtert es dem Kinde, seine aggressiven Impulse iin Sinne der christlichen Nächstenliebe durch Freundlichkeit und Dienstfertigkeit zu kompensieren, die von gesunden Menschen oft als süss und unecht empfunden wird; später wird ihm vielleicht diese übergrosse Weichheit lästig. Vom jungen Mann verlangt man ein männliches Auftreten (vgl. das zu Beginn des Kapitels zitierte Flugblatt), mit dem nun die Weichheit künstlich überbaut wird u.s.w. So legt sich in der Entwicklung des Charakters Schicht auf Schicht: Bis wir den gehemmten, sexualscheuen jungen Mann aus dem christlichen Jünglingsverein vor uns haben, der in Hochachtung und Demut stirbt vor all den Personen, von denen die entscheidenden Versagungen ünd Verbote in seinem Leben ausgegangen sind: Er ehrt nicht nur Vater und Mutter, "auf dass er lang lebe und es ihm wohlergehe auf Erden", sondern auch alle Personen, die ihre Stelle vertreten: Lehrer, staatliche Autoritäten, Gott.
Durch die Sexualablehnung, die ihm anerzogen ist, ist er vorbereitet zur Ablehnung alles Geschlechtsverkehrs, den diese Autoritäten nicht gut heissen. Er wird darum eine streng monogame Ehe eingehen und alle Kritik der Eheinstitution mit moralischer Entrüstung von sich weisen, bzw. den politischen Parteien seine Unterstützung geben, die diese Kritik unterdrücken. In seiner Ehe wird es ihm nicht so sehr auf die Befriedigung der von ihm so genannten "tierischen Lust" als auf "seelische Kameradschaft" ankommen -- während der sexuell gesunde Mensch stets die Einheit von beidem erstrebt --, ferner auf Kinderzeugung. Und seine Kinder wird er nach denselben Prinzipien erziehen, nach denen er erzogen worden ist: Der Zirkel von Produktion und Reproduktion der bürgerlichen Struktur und Ideologie ist geschlossen.
Und zum Schluss noch als Entgegnung auf naheliegende Einwände: Wir wissen natürlich, dass unsere Darstellung der religiösen Entwicklung in keinem Punkt erschöpfend ist; dass je nach den individuellen Bedingungen auch Momente in der kindlichen Entwicklung für die Bildung der religiösen Struktur wichtig werden, die wir nicht ausdrücklich genannt haben; dass andererseits gewisse Erscheinungen des christlichen Lebens wie Demut, Askese, Liebe eine ausführliche psychologische Analyse fordern, zu der auch schon zahlreiche Arbeiten vorliegen. Eine solche Arbeit über die Religion würde aber ein eigenes Buch füllen. Wir haben uns darum begnügt, die wichtigsten Elemente der Verwurzelung der Religion an typischen Beispielen darzustellen. Sexualunterdrückung und Hemmung aller freien Lebensäusserungen, Schuldgefühl und Angst, "Ersatzvater", Beruhigung des Schuldgefühls durch die Sündenvergebung, charakterliche Verarbeitung der gehemmten und umgeformten Triebimpulse.
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Doch noch bleibt eine wichtige Frage übrig: Die Religion legt dem Menschen eine grosse Menge Einschränkungen auf. Das tun aber in gleicher Weise, mit inhaltlich fast den gleichen Forderungen, auch Moral, Recht, ferner bestimmte politische Bewegungen, wie der Faschismus.
Jedes menschliche Wesen strebt aber nach Angstvermeidung und nach Lusterhöhung. Es wird sich also diese Einschränkungen nicht gefallen lassen, wenn ihm dafür nicht etwas anderes als Ersatz geboten wird. Was ist aber dieses Andere, und was bietet die Religion im besonderen für Ersatzbefriedigungen ? (ein nicht sehr glückliches Wort, da wirkliche Befriedigung, wie wir sehen werden, nicht erreicht wird)
Moral, Recht, Faschismus, Religion regeln das Leben des Menschen autoritär, rechtfertigen politisch gesehen Ehe, Staat, überhaupt die bestehende Gesellschaft. Aber was bieten sie dem Menschen noch ausserdem ?
Das Recht garantiert demjenigen, der die Gesetze befolgt, Straffreiheit, Ungestörtheit durch den Eingriff der staatlichen Autorität. Die Moral bietet ihm "das gute Gewissen", das "ein sanftes Ruhekissen ist", den Lohn, den "die gute Tat in sich selbst trägt"; die kleinbürgerlich-banale Spruchweisheit, in die sich diese Moral fassen lässt, verweist unmittelbar auf die Schicht, in der sie am meisten verbreitet ist.
Der Faschismus gibt seinen Anhängern Ehrgefühl, Rassen- und Nationalstolz, politische Macht und Achtung und vor allem Anerkennung durch den Führer. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich, wie wenig die Definition, die Schleiermacher von der Religion gab ("schlechthinnige Abhängigkeit vom Absoluten") für diese spezifisch ist, d.h. etwas trifft, das sie von anderen Erscheinungen unterscheidet. Denn auch der an einen Führer gebundene ist von ihm als von etwas Absolutem schlechthin abhängig. Ebenso ist Freuds Erklärung der Religion als wiederkehrende Vaterbindung (vgl. Anmerkung S. 82) zwar an sich richtig, aber nicht spezifisch. Denn auch der faschistische Führer spielt im Empfinden des an ihn Gebundenen Vaterrolle (vgl. dazu im einzelnen Reich, »Massenpsychologie... «:).
In der Religion erlebt jedoch der Gläubige die Bindung an Gott, den Lohn für seinen Gehorsam und sein Vertrauen auf eine ganz besondere Weise. Und diese besondere Form des Erlebens unterscheidet die Religion von verwandten Erscheinungen, gibt uns die naturwissenschaftliche Formel für das eigentlich "Religiöse der Religion".
Wir verdanken diese Formel dem norwegischen Religionspsychologen Ola Raknes, auf dessen Ausführungen wir uns im Folgenden weitgehend stützen. Sein ausgezeichnetes Buch »Mötet med det heilage« (Begegnung mit dem Heiligen) ist leider nur in norwegi-
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schem Landsmaal erschienen und darum dem nicht norwegischen Leser nur schwer zugänglich. *)
Eine fremde, jenseitige Macht, Gott, bricht gleichsam in sein Bewusstsein plötzlich ein. Er fühlt sich von ihr entweder bloss in unbestimmter Weise gehoben und getragen, er fühlt ihre Macht im Sakrament der Sündenvergebung, er hört als Prophet oder religiös Entrückter unmittelbar ihre Stimme, er erlebt als Mystiker unmittelbar die Vereinigung mit ihr. So, wenn Paulus davon spricht, dass er in Christus und Christus in ihm sei, wenn katholische Nonnen sich als "Bräute Christi" bezeichnen.
Wir können auf Grund unserer Erfahrungen nicht an das wirkliche Bestehen solcher überirdischen Mächte ausser uns glauben, können darum auch den Theologen nicht beistimmen, die von einem besonderen religiösen Sinn im Menschen reden, dessen Fehlen es unmöglich mache, über religiöse Dinge mitzureden. Wir müssen uns die Sache vielmehr folgendermassen erklären.
Im gewöhnlichen Leben werden in unserer Gesellschaft bestimmte Vorstellungen aus dem Bewusstsein verdrängt, die dazugehörige Energie in krampfhaften Körper- und Charakterhaltungen gebunden. Im Zustand religiöser Erregung, "Erbauung", brechen diese Kräfte plötzlieh in unser Bewusstsein ein: Aber nicht so, dass sogleich eine dauernde organische Verschmelzung stattfände. Der Einbruch geschieht vielmehr bloss an einer Stelle, wie durch ein Loch, das sich nachher wieder schliesst. Und die Kräfte brechen endlich nicht als das ein, was sie wirklich sind, sondern sie werden in einer Form bewusst, auf die das Bewusstsein vorbereitet ist: So wie die hysterische Frau im geheimnisvollen Knacken der Tür den Mann vermutet, der sie vergewaltigen will, der Geizhals den Dieb, der Liebende die Geliebte, der von Gläubigern verfolgte den Gerichtsvollzieher: So ge-
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*) Raknes geht in seinem Buch von den geläufigen wissenschaftlichen Definitionen der Religion aus und zeigt, dass sie unspezifisch sind, d.h. auch andere Erscheinungen als die religiösen umfassen, während die theologische Auffassung der Religion als etwas ganz Besonderem, das dem areligiösen wissenschaftlichen Denken unzugänglich sei, aufhöre, wissenschaftlich zu sein. Um aus dieser doppelten Schwierigkeit einen Ausweg zu finden, greift er auf die Entstehung der Religion in den uns bekannten primitiven Gesellschaften zurück und fragt: Was sind es für Erlebnisse, die ein profanes Ding, einen profanen Menschen in diesen Gesellschaften zu einem heiligen machen ? -- Als typische Erlebnisse dieser Art findet er die ekstatischen Erlebnisse. Er geht nun unter Heranziehung eines reichen ethnologischen, religionsgeschichtlichen und psychopathologischen Materials der Frage nach, wie diese Ekstasen aussehen, findet dabei eine erstaunliche formale Ähnlichkeit -- trotz verschiedenster kultureller Bedingungen und Inhalte. Dabei zeigt sich, dass ekstatische Erlebnisse auch in den Religionen der sogenannten Kulturvölker in mehr oder minder ausgesprägter Form eine entscheidende Rolle spielen. Zum Schluss versucht Raknes eine Hypothese über die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ekstatischer Erlebnisse aufzustellen: Seiner Auffassung nach spielt das unterdrückte Nahrungsbedürfnis dabei die entscheidende Rolle. Wir haben in der folgenden Anmerkung kurz die Argumente zusammengefasst, die uns für eine andere Erklärungsmöglichkeit zu sprechen scheinen, ohne jedoch auf diese Fragen im Einzelnen eingehen zu können.
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winnen diese übermächtigen Kräfte für den Religiösen, der von ihrem Einbruch überwältigt wird, die Gestalt der Mächte, denen er als Kind ebenso hilflos gegenüberstand, bei denen er aber auch umgekehrt in den äusseren Nöten des Lebens Schutz finden konnte: Es sind das die Eltern, insbesondere der Vater.
Dieses plötzliche Einbrechen unbewusster Kräfte ins Bewusstsein kennen wir in seiner ausgeprägtesten Form als Ekstase (Ekstasis griech.=Ausser-sich-sein). Raknes hat in seinem Buch vor allem für die primitiven Gesellschaften gezeigt, wie am Ursprung der Religion stets ekstatische Erlebnisse stehen. Sie sind es -- oder die ihnen sehr verwandten Träume --, die ein vorher gewöhnliches, profanes Tier -- oder auch ein Ding, einen Menschen -- zu einem heiligen machen. Das Tier wird zum Totemtier, der Stein, die Pflanze zur Totempflanze dessen, dem es in der Ekstase, im ekstatischen Traum als solches erscheint, der Mensch wird durch die Entrückung zum Priester, zum Medizinmann.
Die Primitiven konnten sich solche Erlebnisse nur aus Einwirkung höherer Mächte erklären, während wir neben dieser in der religiösen Sphäre fortlebenden "Erklärung" auch über andere, naturwissenschaftliche Erklärungen verfügen. *)
Doch wir wollen uns hier nicht weiter mit der Ekstase bei den Primitiven befassen, so wichtig dies auch für die Erforschung des Ursprungs der Religion sein mag, sondern uns an Beispiele halten, die dem religiösen Leben der Gegenwart näher liegen.
Die heilige Theresa, eine spanische Mystikerin des 16ten Jahrhunderts, deren Schriften bis zum heutigen Tag grossen Einfluss auf die Gestaltung des religiösen Lebens in der katholischen Kirche ausüben, beschreibt ihre ekstatischen Erlebnisse folgendermassen (Oeuvres complètes, trad. nouv., Paris 1907, 1., S. 147ff, zit. n. Raknes, S. 122f):
"Theresa spricht in ihrer Selbstbiographie von 4 Graden der Oration (mystische Vereinigung mit Gott) und vergleicht sie mit 4 Arten, einen Garten zu bewässern. "Zuerst kann man mit Mühe und Anstrengung Wasser aus einem Brunnen schöpfen. Dann kann man eine Standpumpe mit Ausguss gebrauchen, die man mit einem Schwengel in Gang setzt, und diese Methode habe ich selbst oft gebraucht: Sie ist minder anstrengend und man bekommt mehr Wasser. Weiter kann man Wasser aus einem Bach oder einem Teich hereinleiten; die Bewässerung ist dann besser, die Erde wird bis in grössere Tiefe feucht, man muss nicht so oft giessen, und der Gärtner hat nicht annähernd so schwere Arbeit
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*) Ohne Zweifel hängt die Vorstellung von einer höheren Kraft, die in der Ekstase in der Gestalt des Totems ins Bewusstsein einbricht, mit der Angst der Primitiven vor den unbewältigten Naturkräften, mit ihrer Angst vor Nahrungssorgen zusammen; Totemtiere sind oft bevorzugte Nahrungstiere. Aber der Umstand, dass sich die Primitiven bei den festlichen Totemmahlzeiten manchmal die Hoden des Tiers zu den ekstatischen Tänzen umbinden, ihre Vorstellung, sich die Kraft des Tiers dabei einzuverleiben, endlich die Verbindung dieser Feste mit Pubertätsriten, Beschneidung deutet -- entgegen Raknes -- darauf hin, dass unterdrückte sexuelle Kräfte bei der Entstehung der ekstatischen Riten eine wichtige Rolle spielen. Die genauere Erforschung der Bedingungen der Ekstase bei den Primitiven muss jedoch künftiger Forschung vorbehalten bleiben.
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mehr. Die vierte Art ist ein reichlicher Regen, und das ist die ohne Vergleich beste Art, denn dann ist es der Herr selbst, der wässert, ohne irgendwelche Arbeit von unserer Seite."
Das "Pumpen" in den ersten Stadien geschieht durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf Jesus Christus und sein Leben.
"Wir kommen nun 'zum rinnenden Wasser oder Bach oder Quelle. Man hat noch die volle Mühe, es zu leiten, doch die Wässerung ist viel weniger ermüdend.' Dieses dritte Stadium ist 'ein Schlaf der Seelenkräfte, ein Zustand, da sie nicht völlig verschwunden sind, aber dennoch nicht wissen, wie sie wirken ... Man könnte es vergleichen mit jemand, der schon mit dem geweihten Wachslicht in der Hand jeden Augenblick den Tod erwartet, ihn erwartet mit brennender Sehnsucht. In diesen letzten Atemzügen ist die Seele überflutet von unsäglicher Freude. Nach meiner Meinung heisst das, fast ganz [in] dieser Welt abzusterben und schon die Gemeinschaft mit Gott zu geniessen. Ich finde keine anderen Worte, um es zu sagen, und ich weiss nicht, wie ich es anschaulich machen soll. Im übrigen weiss ja auch die Seele selbst nicht, was sie tun soll. Soll sie reden, soll sie weinen ? Sie weiss es nicht. Es ist eine strahlende Wüste, ein himmlisches Von-sich-sein, das einem das wahre Wissen lehrt. Es ist für die Seele ein unendlich seliges Geniessen... Die Seelenkräfte sind fast ganz vereinigt mit Gott, obwohl sie noch nicht so in ihn eingetaucht sind, dass sie nicht mehr arbeiten... Der Willen ist ganz damit einverstanden, dass die Gnade auf diese Weise über die Seele hereinströmt... In den verschiedenen Orationen, die aus dieser dritten Bewässerungsart kommen -- und dies ist Quellwasser --, hat die Seele solches Glück und solchen Frieden, dass der Körper deutlich an ihrem Glück und ihrer Seligkeit teilnimmt.'
... Die vierte Stufe nennt Theresa 'Vereinigungsoration'. In den früheren Zuständen wusste man noch von sich, aber hier 'weiss man nichts mehr; man geniesst bloss, ohne zu wissen, was man geniesst... Alle Sinne sind so aufgesogen in diesem Genuss, dass keiner von ihnen frei ist, sich mit etwas anderem abzugeben, sei es nun das Äussere oder das Innere... Der Körper ist ohnmächtig, und die Seele ist unfähig, das Glück vorauszusehen, das sie geniesst... Zu Beginn kam dieses Wasser vom Himmel fast immer nach einem innerlichen Gebet... Während die Seele auf diese Weise ihren Gott sucht, fühlt sie mit starkem und süssem Empfinden, dass sie das Meiste nicht weiss. Der Atem steht stille, die Körperkräfte versinken, so dass man nicht einmal die Hände ausstrecken kann, ohne dass es weh tut...
Nach meiner Meinung dauert es niemals lang, dass auf diese Weise alle Seelenkräfte zugleich stille stehn... Ich sage es noch einmal: Dies, dass die Kräfte ganz untätig sind, dass auch die Phantasie nicht arbeitet -- denn meiner Meinung nach ist auch die Phantasie unwirksam -- das dauert niemals lange.
...Wir kommen nun zu den innersten Empfindungen der Seele in diesem Zustand... Ich für meinen Teil halte es für unmöglich, etwas davon zu wissen oder gar, von ihnen zu sprechen. Da ich mich nun zum Schreiben setzte, fragte ich mich, was die Seele da macht; es war nach dem Altargang, und ich kam eben aus dem Orationszustand, von dem ich spreche. Da sagte mir Unser Herr diese Worte: Du wirst aufgezehrt, meine Tochter, von einem Drang, tiefer in mich einzudringen. Es ist nicht mehr länger sie, die lebt, ich bin es, der in ihr lebt."
Aus der Analyse zahlreicher Ekstasen findet Raknes, dass typisch dabei sind: Plötzlichkeit, Passivität, Erkenntnisgefühl verbunden mit Unaussprechlichkeit des Erkannten, gewisse Allgemeinempfindungen, kurze Dauer, Gefühl der Erleichterung, Bereicherung nachher. Wir können noch von uns aus hinzufügen: Bestimmte willkürliche Vorbereitungen, Übungen etc., die aber von einem bestimmten Augenblick an anfangen, in einen unwilkürlichen Prozess überzugehen.
Nun erlebt ganz gewiss der Durchschnittschrist die Ekstase nicht in der gleichen Form und Stärke, wie der Mystiker und Heilige. Aber
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zu der Schilderung der heiligen Theresa gibt es Punkt für Punkt Parallelen im Leben des frommen Menschen. "Andacht" wird durch bestimmte äussere Veranstaltungen -- dunkler Kirchenraum, Händefalten, Musik -- bewusst gefördert, doch ohne dass in der Folge die religiöse Ergriffenheit "über einen kommt", ist alles äussere Tun leer und unbefriedigend. Doch wenn das geschieht, dann hat der Gläubige ein fast körperliches Glücksgefühl, das er aber ebensowenig wie die heilige Theresa in Worte fassen kann. Die Unmöglichkeit, über dieses Innerste zu sprechen, macht ja auch so oft den Diskussionen zwischen Freidenkern und Religiösen ein Ende. Der Fromme hat das Gefühl, etwas zu wissen, was der Andere nicht weiss, und doch kann er es nicht aussprechen: "Den Weisen ist es ein Geheimnis, den Toren ist es offenbar geworden." (Paulus)
Was ist es aber, das in der "mystischen Erhebung" durchbricht ? Das Gefühl der Vereinigung mit dem göttlichen Vater, sagt die heilige Theresa. Das übermächtige Gefühl von seiner Liebe und Gnade der Sündenvergebung, sagen Luther und die frommen Protestanten. *)
Woher aber bezieht dieser Durchbruch seine ungeheure gefühlsmässige Energie ? Hier werden wir uns der Tatsache erinnern, dass es sich bei allen Religiösen um sexualablehnende, bei den typischen Mystikern sogar um streng asketisch lebende Menschen handelt.
Doch wenn wir nun mit unseren Darlegungen weiter fortfahren, so müssen wir uns wieder die Schwierigkeit klar machen, die der unvorbereitete Leser haben wird, ihnen zu folgen. Denn während die Tatsachen, auf die wir uns bisher berufen haben, jedermann zugänglich und verständlich sind, müssen wir in der Folge wiederum Erfahrungen heranziehen, die der charakteranalytischen Klinik entstammen. Für die Leser, die diesen Erfahrungen kein Vertrauen schenken -- und das wird gewiss die Mehrzahl sein -- können wir nur mittels der erstaunlichen Parallelen zwischen den religiösen und gewissen physiologischen Phänomenen einen Wahrscheinlichkeitsbeweis liefern. Der Wert dieser Parallelen wird allerdings dadurch erhöht, dass Raknes seine Phänomenologie der Ekstase aufstellte, ehe er von Psychoanalyse, geschweige denn von der sexualökonomischen Orgasmuslehre die geringste Kenntnis hatte.
Dafür aber, dass es sich um sexuelle Energie handelt, die in der Ekstase allerdings in verhüllter Form durchbricht, dafür spricht die ungeheure Ähnlichkeit der Ekstase mit dem Höhepunkt des sexuellen Erlebens, dem Orgasmus.
Hier wie dort gehen willkürliche Vorbereitungen, Muskelbewe-
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*) Harald und Christian Schjelderup haben in ihrem Buch »Über drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und ihre psychologische Grundlage« (Berlin 1932) gezeigt, dass auch die Gestalt der Mutter, die Erinnerung an den Zustand phantasierter kindlicher Allmacht im religiösen Erleben die zentrale Rolle spielen können. Sie beschäftigen sich dabei jedoch nicht mit der ekstatischen Form des religiösen Erlebnisses. Eingehen auf die dort aufgeworfenen Probleme würde hier zu weit führen.
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gungen in einem bestimmten Augenblick in unwillkürliche über, hier wie dort wird der entscheidende Höhepunkt plötzlich ansteigend und kurz dauernd in passiver Hingegebenheit erlebt. Hier wie dort ist er mit allgemeiner Erregung und mit bestimmten Körpersensationen verbunden (Gefühl des Strömens, Stocken des Atems), jede Ablenkung durch äussere Vorgänge wird als störend und schmerzhaft empfunden, hier wie dort stellt auch die Phantasie im Augenblick höchster Erregung ihre Tätigkeit ein, Phantasien während des Akts sind Zeichen einer Störung. Kurz vorher hat man das Gefühl des Eindringens und Durchdrungenwerdens, während das Gefühl der eigenen Persönlichkeit sich auflöst (vgl. die letzten Sätze im Bericht der Hl. Theresa). Im Akt selbst ist der Mensch ein Stück Natur geworden, die Empfindungen dabei sind darum nahezu unaussprechlich, und es hat eingehender klinischer Beobachtung bedurft, um die Orgasmusphänomenologie auch nur so weit auszuarbeiten, wie wir heute damit gekommen sind.
Doch die sexuelle Energie kann im sexualverneinenden religiösen Menschen nicht als solche durchbrechen, sie kann auch nicht in der einzig wirklich natürlichen Form als Erregung und Entspannung am Genitale abgeführt werden. An Stelle dessen tritt die phantasierte Vereinigung mit einem Bild des Vaters (oder der Mutter). Die Psychoanalyse hat entdeckt, dass der unbewusste Wunsch nach sexueller Vereinigung mit den Eltern, und zwar in heterosexueller und homosexueller Form, bei fast allen Menschen unserer Kultur vorhanden ist; die Sexualökonomie hat gezeigt, wie er durch die Hemmung der genitalen Befriedigung jedoch ungeheuer an Energie gewinnt.
Mit der phantasierten Vereinigung in der religiösen Ekstase müssen allerdings auch gewisse körperliche Vorgänge Hand in Hand gehen, die mit der körperlichen Erschütterung und Entlastung im sexuellen Orgasmus eine Ähnlichkeit haben: Denn in beiden Fällen berichten die Betreffenden von Körpersensationen, aber auch von dem Gefühl von Befreiung, Erleichterung, unaussprechlichen Glücks nachher. *) Doch wissen wir über die körperliche Grundlage der religiösen Ekstase noch weniger als über die des Orgasmus, nämlich gar nichts. Doch die Minderwertigkeit der "ekstatischen" Befriedigung gegenüber der orgastischen beweist die Angst, mit der diese Befriedigung selbst bei der heiligen Theresa verbunden ist, und die beim orgastisch potenten gesunden Menschen natürlich fehlt. **) Diese Angst spielt bei anderen Mystikern und Propheten, aber auch bei den gewöhnlichen Gläubigen eine entscheidende, oft das ganze Leben beherrschende und,
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*) Hier hat wohl auch das "ozeanische Gefühl" seinen Platz, das Romain Rolland, unserer Meinung nach mit Recht, als ein Grundphänomen der Religion ansieht. Freud hat Rollands Auffassung im »Unbehagen in der Kultur« abgelehnt.
**) Während sie beim Neurotiker gerade im Zusammenhang mit dem Orgasmus auftritt, ebenso die Vorstellung vom Sterben (=sich im Orgasmus auflösen). Vgl. »Psychischer Kontakt und vegetative Strömung« von W. Reich.
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wir können ruhig sagen, vergiftende Rolle. Der religiöse "Orgasmus" ist darum teuer bezahlt. Er schwindet aber zusammen mit aller religiösen Bindung sogleich, wenn wir bei einem religiösen Mensehen in der Analyse die Fähigkeit zum wirklichen Orgasmus herstellen: Und das selbst dann, wenn über Religion in der Analyse gar nicht gesprochen wurde. Dies ist ein weiterer klinischer Beweis für unsere Religionstheorie.
Zusammenfassend können wir sagen: Die Kraft, mit der die Menschen an der Religion festhalten -- ganz abgesehen davon, dass die religiöse Ideologie von der herrschenden Klasse als gesellschaftlich herrschende Ideologie propagiert und durchgesetzt wird -- leitet sieh aus zwei Quellen ab: Einerseits ist es die illusionäre Bejahung gewisser sozialistischer Ziele in der religiösen Moral -- doch diesen Zug teilt das Christentum mit anderen Institutionen, z.B. dem Faschismus. Weit wichtiger aber ist die Form des Gotteserlebnisses selbst, das den Menschen von gewissen quälenden Spannungen erlöst, die die Religion "hinter seinem Rücken", d.h. in diesem Fall, durch die sexualunterdrückende Erziehung selbst verursacht hat.
Dabei liefert die Sexualunterdrückung die Energie, die Bindung an den Vater (eventuell auch die Mutter) den Inhalt, der orgastische Erregungsablauf die Form des religiösen Erlebnisses.
So gleicht die Kirche auf sexualökonomischem Gebiet dem Kapitalisten, der der Arbeiterklasse den Mehrwert, den er aus ihr gepresst hat, zum kleinen Teil in Form von Almosen wiedergibt. Wenn die Arbeiterklasse es gelernt haben wird, sich nicht mit Almosen zu begnügen, sondern aufs Ganze zu gehen, dann wird für den Kapitalisten ebensowenig Platz in der Gesellschaft sein wie für den Priester.
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ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S.134-136
Jørgen Neergaard
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ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S. 138-139
Besprechung:
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ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S. 139-140
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ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S. 140-141
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