ZPPS, Band 3 (1936), Heft 1-2 (8-9), S. 43-49
Aus der internationalen Sexpol-Diskussion
[u.a. zum Anarchismus]
von Karl Teschitz
Wir stehen mit Genossen aus fast allen sozialistischen Gruppen in regem Briefwechsel. Demgegenüber kommt die öffentliche Diskussion nur langsam in Gang. Die sozialdemokratische Presse -- mit Ausnahme der Freidenker -- schweigt uns tot, die Kominternpresse hat uns ein für alle Mal unter die Konterrevolutionäre eingereiht.
Die unabhängige sozialistische Presse brachte z.T. sehr freundliche Besprechungen: So z. B. «Neue Weltbühne», «Unser Wort», «Internat. Ärztliches Bulletin», auch «Arbeiderbladet», das Organ der keiner Internationale angeschlossenen norwegischen Arbeiterpartei.
Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Sex-Pol findet sich in der holländischen Zeitschrift «Bevrijding», ferner auch ein grundsätzlicher Artikel in der spanischen «Revista blanca». Beide stehen auf dein Boden des Anarchismus bzw. Anarchosyndikalismus. Das ist an sich nicht überraschend. Von jeher waren die Anarchisten diejenigen unter den sozialistischen Gruppen, die auf die Befreiung und Revolutionierung des persönlichen Lebens, auf die Aktivierung des revolutionären Willens das grösste Gewicht gelegt haben, die sich darum auch schon frühzeitig mit dem Problem der sexuellen Befreiung befassten.
Unter den Einwänden sind diejenigen am interessantesten, die aus der anarchistischen Ablehnung des Marxismus, der zentralisierten Partei sowie jeder autoritären Organisation überhaupt stammen. Wir glaubten zwar, wir seien Marxisten, sagen diese Genossen. Aber:
"Es ist richtig, dass die Auffassungen von Marx betreffend ökonomischer Basis und ideologischem Überbau nicht angegriffen werden. Die Auffassungen von Reich bringen aber eine so komplett veränderte Einstellung auf theoretischem und praktischem Gebiet, dass wir es in Wirklichkeit mit einer theoretischen
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Erneuerung des Marxismus zu tun haben. Wäre das nicht der Fall, dann würde es nicht so viel Widerstand geben." (Jong und Kuysten in «Bevriiding», Juni 1935)
"Reich hat seinen Ausschluss (aus der kommunistischen Partei, der Ref.) wohl verdient, denn sein Buch ist eine heftige Attacke auf einen der grundlegenden Irrtümer des Marxismus: des mechanisch verstandenen Marxismus, sagt er, des autoritären Sozialismus im ganzen gesehn, sagen wir." («Revista blanca», 8. November 1935)
Die Analyse, die die Sex-Pol von der Rolle der Autorität gibt, findet bei diesen Genossen besondere Beachtung. Doch gerade hier findet man einen Widerspruch in unserer eigenen Auffassung.
"Wie ist es möglich, dass Leute, die den psychologischen Grund und die Gefahr der Autorität, wie sie sich auch offenbart (Familie, Staat, Kirche, Partei) kennen, noch immer eine Schlinge um den Arm haben, wenn es der Komintern gilt ?" (Hornstra in «Bevrijding» Feb. 1935)
In diesem Zusammenhang greift Hornstra das Bekenntnis eines Mitarbeiters von Heft 3/4 zur Arbeit innerhalb der kommunistischen Partei an. Ebenso vermisst er bei den Kritikern des deutschen Autoritätsprinzips eine entschiedene Kritik des gleichen autoritären Prinzips in Russland, ein positives Bekenntnis zu den Arbeiter- und Bauernräten, die seiner Meinung nach schon zu Beginn der russischen Revolution auf Befehl der kommunistischen Parteizentrale in Blut erstickt worden sind (Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes).
Noch klarer entwickeln Jong und Kuysten den anarchistischen Standpunkt in ihrer Kritik an unserer Meinung über die Partei.
"Reich's Standpunkt betr. der Notwendigkeit einer straff organisierten und disziplinierten Partei und betr. des Staates sind inkonsequent. Wenn nämlich die Praxis seiner Theorien zur Zerstörung der Bindung an den Führer, der Autoritätsgläubigkeit, der Unselbständigkeit führt, wie ist es dann möglich, Mitglieder für dgl. Parteien zu finden, -- angesichts der Tatsache, dass alle diese Parteien bisher bürokratische, diktatorische Instrumente waren und nur bestehen konnten durch die geistige Ohnmacht des Proletariats."
Während sich die Entwicklung vom Urkommunismus zur Klassengesellschaft ohne ideologischen Bruch vollzog, sei eine komplette ideologische Revolution vor Aufhebung der Klassenteilung notwendig.
"Die Auffassung von Engels, das Absterben des Staates betreffend, ist nur zu begreifen, wenn man annimmt, dass der ökonomisch-revolutionäre Kampf durch die grosse Mehrheit eines unmündigen Proletariats geführt wird, das dann auch weder ökonomisch noch politisch Recht zur Mitbestimmung erhält. Die politische Partei hat offenbar die Aufgabe, diese Unmündigkeit aufzuheben und Bedingungen zu schaffen, unter denen die ökonomische Macht in die Hände der Arbeiter übergeht und die Regierung über Menschen durch Verwaltung von Gütern ersetzt wird. Der Verlauf der russischen Revolution hat aber deutlich erwiesen, dass in einem solchen Falle die politische Partei, die den Produktions- und Machtapparat, d.h. den Staat in die Hände bekommt, alle Kennzeichen einer herrschenden Klasse entwickelt. ... Eine Entwicklung also, völlig im Gegensatz zu der von Engels geschilderten."
Zum Schluss stellen Jong und Kuysten fest, es sei bemerkenswert, dass die theoretischen Grundlagen für eine Erneuerung des Anarchis-
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mus gerade von marxistischer Seite kommen. Der Anarchismus darf allerdings nicht in der bisherigen dogmatischen Abgeschlossenheit verharren, sondern muss den Fortschritten des wissenschaftlichen Denkens aufgeschlossen sein.
Die «Revista blanca» (8. und 15. Nov. 1935) meint, der Hauptgedanke Reichs lasse sich in dem Satz zusammenfassen: "Die Grundlage aller geistigen Sklaverei ist die sexuelle Sklaverei." Darum sei sexuelle Befreiung mit Hilfe einer besonderen Aufklärungs- und Erziehungsarbeit notwendig, um in den Köpfen des Proletariats eine revolutionäre Ideologie zu schaffen.
Die Gedanken Reichs sind für die revolutionäre Bewegung wichtig. Doch es erheben sich folgende Einwände: Befreiung von kleinbürgerliehen Vorurteilen in sexueller Hinsicht macht den Menschen noch nicht zum Revolutionär. Ein sexuell freier Mensch könnte trotz allem jedes menschlichen Solidaritätsgefühls bar sein. Man dürfe auch nicht die Bedeutung der Unterdrückung gewisser sexueller Tendenzen für die menschliche Solidarität und Zivilisation ausser Acht lassen, worauf ja auch Freud in seinem gesamten Werk hingewiesen hat.
Für den Kampf um den freien revolutionären Sozialismus müsse man die Ergebnisse aller psychologischen Forschungsrichtungen verwenden, auch derjenigen, die die Sexualität nicht in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Man dürfe sich nicht, wie Reich, darauf beschränken, den verschiedenen Parteien bessere psychologische Argumente zu liefern oder die sexuellen Fragen in den politischen Kampf mit einzubeziehen. Sondern in dieser Epoche der "roten und weissen Diktaturen" käme es darauf an, den Kampf grundsätzlich für einen freien, gegen jeden autoritären Sozialismus zu führen.
Die hier erhobenen Einwände leiten über zu einer Reihe anderer nicht typisch anarchistischer Auffassungen, die in der holländischen Diskussion aufgetaucht sind. Sie betreffen:
1) Die sexualökonomische Auffassung der Beziehung von Sexualbefriedigung, Sublimierung und Arbeitsleistung. Hier vertritt («Vrijdenker», 14.IX.1935) Jef Last (Mitglied der K.P.H.) in der Abwehr eines sehr oberflächlichen Angriffs auf die Sex-Pol eine ähnliche Auffassung, wie die «Revista blanca».
"Wir sind uns bewusst, dass gesellschaftlich wie persönlich Beschränkung des Sexuellen Voraussetzung ist für die Sublimierung. Die gewaltigen wissenschaftlichen, künstlerischen und andern Arbeitsleistungen der weissen Rasse sind nur durch Sublimierung möglich gewesen, die einer sexuellen Moral entstammte, deren Strenge nirgends auf der Welt und zu keiner Zeit ihresgleichen gehabt hat. Die Menschheit lernte eine neue Art von Glück kennen. Nicht glücklich sein in Harmonie mit der Natur in und ausser uns selbst, sondern glücklich sein, insoweit es unserm Willen gelingt, diese Natur zu beherrschen und zu verändern. Symbol dieser Beherrschung und dieses Veränderungswillens wurde die Arbeit und daher unser Arbeitsethos."
Die Sexualmoral wurde -- gegenüber Altertum und Mittelalter -- mit der vom Kapitalismus geforderten Arbeitsanspannung ungeheuer verschärft, brach jedoch zusammen, als mit steigender Mechanisie-
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rung die Arbeit für den Arbeiter ihren Sinn verlor. Auch der Sozialismus wird eine gewisse Sexualeinschränkung verlangen, die aber nicht an der Sexualmoral des Privatkapitalismus gemessen werden darf. -- Mit Reichs Sublimierungstheorie erklärt sich Last an anderer Stelle ausdrückIich nicht einverstanden. Last vergisst, dass das von ihm vertretene Glück in der Masse einer illusionären Befriedigung entspricht.
2) Eine Kritik der Anwendung der Begriffe rational und irrational hinsichtlich der Bauern und des Mittelstandes (Jong und Kuysten in «Bevrijding», Juni [1935[). An der Landwirtschaft habe sich das Marx'sche Konzentrationsgesetz nicht bewährt. Die bestehende Not treibt den individuell produzierenden Bauern zur Suche nach einem Ausweg aufgrund der bestehenden Produktionsverhältnisse, solange dieser Ausweg noch nicht fühlbar deutlich versperrt ist. Es wäre im Gegenteil irrational, wenn aus einer gegebenen Situation automatisch die Einsicht für die Zukunft folgte. Ähnliches gilt für den Mittelstand, besonders für die freien Berufe. Diese Menschen könnte man wohl mit antikapitalistischen, nicht aber mit sozialistischen Parolen erfassen, ihre Sympathie für den Faschismus sei darum begreiflich.
3) Es werden eine Reihe Fragen gestellt, Probleme aufgeworfen, die eingehende historische Studien fordern würden und hoffentlich auch zu ihnen Anregung geben. Z.B.: Reich deutet an, dass erst die Verbürgerlichung des Proletariats die psychische Untertanenstruktur schuf. Wie war aber die Klassenunterdrückung vor dieser Verbürgerlichung psychisch verankert ? -- Das Problem der Degeneration des sexuellen Lebens im Proletariat (etwa im englischen Steinkohlendistrikt Anfang des vorigen Jahrhunderts). -- Das Problem der Religion im Matriarchat, wo man bei fehlender Sexualunterdrückung eine solche nicht erwarten sollte. -- Endlich: Warum rebelliert die russische Jugend, "die keine sexuelle Unterdrückung und Bindung an die Familie kennt", nicht gegen Stalins bürokratische Unterdrückung ?
Antwort auf einige Einwände der anarchistischen Genossen
1) Auf die Frage Russland will ich hier nicht im einzelnen eingehen. Die Sex-Pol hat übrigens in besondern Schriften dazu Stellung genommen. Nur eines will ich sagen: Ich glaube, es geht nicht an, in einem Atem von "roter und weisser" Diktatur zu sprechen, die russische Revolution einfach in Bausch und Bogen zu verurteilen. Alle Fehler, die in Russland gemacht worden sind, schaffen die Tatsache nicht aus der Welt, dass es hier zum ersten Mal in der Weltgeschichte einer Arbeiterklasse gelungen ist, die kapitalistischen Ausbeuter dauernd zu verjagen und die Produktion selbst bzw. durch die selbstgewählten Organe in die Hand zu nehmen. Ob und in welchem Ausmass diese Organe dann später degeneriert sind, ist eine Fragefür sich.
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"Leider" geschah diese Machtergreifung mit Hilfe einer zentralisierten und autoritär geleiteten Partei, während der Anarchosyndikalismus bisher in entscheidenden Augenblicken versagt hat. Die französischen Gewerkschaften marschierten, im Gegensatz zu den Bolschewiki, 1914 genau so begeistert in den Krieg wie die Reformisten; die spanischen Anarchosyndikalisten konnten den Sieg der Reaktion in Spanien nicht verhindern. Also mögen sie Lenin und den Bolschewismus nicht gar so sehr von oben herab behandeln.
Auf der andern Seite hat die Sex-Pol, ihrer Unabhängigkeit entsprechend, aus ihrer Kritik an der spätern Taktik und Entwicklung der kommunistischen Partei niemals einen Hehl gemacht. Wenn wir diese Kritik nicht -- wie manche unserer Freunde wünschen -- mehr in den Vordergrund stellen, so scheint mir der Hauptgrund darin zu liegen, dass uns die Bearbeitung der Frage "Was geht in den Massen vor ?", die Untersuchung von Einzelfragen der Massenpsychologie und Sexualpolitik im heutigen Zeitpunkt wichtiger erscheint als die Auseinandersetzung mit der allgemeinen Politik der kommunistischen oder irgend einer andern Arbeiterpartei.
2) Beim Problem "Führung" und "Autorität" inuss man unterscheiden. Es gibt nämlich eine rational völlig berechtigte Autorität, der sich auch ganz gesunde Menschen fügen werden. Das ist z.B. die Autorität, die aus besonderem Fachwissen stammt. Kein Anarchosyndikalist wird z.B. die Autorität eines guten Arztes bestreiten, der ihm eine bestimmte Diät verschreibt. Aber auch im politischen Leben gibt es die Autorität des Erfahreneren, besser Geschulten, desjenigen, der die Wünsche der Massen besser als die andern auszusprechen, sich besser dafür einzusetzen vermag.
Vielleicht ist jede Autorität zuerst auf dieser rationalen Grundlage geschaffen worden. Erst später hat sich dann der Führer (bzw. die Führerclique, der Parteiapparat) verselbständigt und ist zu den Massen und ihren Interessen in Gegensatz getreten. Doch diese Massen können sich dagegen meistens nicht wehren, hatten es stets schwer, die angemasste wieder durch eine natürliche Autorität zu ersetzen. Ursache: Die von der Sex-Pol aufgezeigte durchschnittliche psychische Struktur, Autoritätsscheu, kindliche Bindung an die einmal eingesetzten Führer und Parteien.
Diese durchschnittliche Struktur kann in der heutigen Gesellschaft nicht radikal beseitigt werden. Und sie ist es auch, die die Massen hindert, ohne die Stützung durch eine Organisation, eine Führung, in Form der "direkten Aktion" wirkungsvoll gegen die Autorität der Unternehmer, des Staates zu rebellieren. Da die Durchführung der "totalen ideologischen Revolution" vor dem Sieg des Proletariats unmöglich ist (da sie die Herrschaft über den gesamten Erziehungs- und Propagandaapparat der Gesellschaft voraussetzt), werden wir bis auf weiteres mit Parteien rechnen müssen, die in vielen Punkten nicht dem Ideal des freien Sozialismus entsprechen, das auch das unsere
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ist. Der beste Beweis dafür ist übrigens Jongs und Kuystens eigenes Eingeständnis, dass der Anarchismus in dogmatischer Abgeschlossenheit verharrt sei, ein Eindruck, den man auch sonst bei der Beschäftigung mit ihm bekommt. Also ist auch er einer Autorität verfallen -- nämlich der Autorität seiner eigenen Doktrin.
Wäre es darum nicht am besten, innerhalb der grossen Massenparteien für deren Revolutionierung zu arbeiten (vgl. Anhang zu «Was ist Klassenbewusstsein ?») ? Wir müssen versuchen, den Massen zu Führungen zu verhelfen, die ihre kindliche Bindung nicht gegen sondern für die Durchsetzung des Interesses dieser Massen ausnützen. Viele Aufgaben, ergeben sich dabei: Z.B. die Umstellung der Bildungsarbeit vom autoritären Herantragen irgendwelcher abstrakten -- wenn auch an sich richtigen -- Theorien auf die lebendige Entwicklung dieser Theorien aus dem wirklichen Leben; die Arbeit für eine sexualbejahende sozialistische Kulturbewegung. All das wären Aufgaben, in denen die Anarchisten ihre Kräfte vielleicht fruchtbarer einsetzen könnten als im blossen moralischen Appell an den revolutionären Willen kleiner Gruppen.
3) Darüber hinaus setzt sich die Sex-Pol für die Schaffung besonderer sexualpolitischer Organisationen ein, die den Massen ihr sexuelles Elend bewusst machen, in einem gewissen Mass zu seiner Linderung beitragen, im Ganzen gesehen diese Massen jedoch von dieser, von der Arbeiterbewegung bisher vernachlässigten Seite aus revolutionieren sollen.
In welcher Form diese Organisationen ins Leben gerufen werden können, darüber ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen. Aber es ist merkwürdig, dass keiner unserer anarchistischen Kritiker auf die Frage der sexualpolitischen Praxis zu sprechen kommt, obwohl doch gerade diese Seite die Freunde der direkten Aktion besonders interessieren müsste.
Ich glaube die spanischen Genossen haben Reich missverstanden, wenn sie ihn so verstehen, dass man schon heute durch Propaganda und Erziehung die Menschen sexuell befreien und damit revolutionär machen solle. Man kann wohl durch Aufklärung, durch Einrichtung von Beratungsstellen für Empfängnisverhütung und für psychische Schwierigkeiten einiges erreichen, um die Not zu lindern und der sexualpsychologischen Verbürgerlichung vorzubeugen, besonders bei der Jugend. Aber ein grosser Teil dieser Arbeit und der Forderungen, die dabei erhoben werden müssen, führt zur Kritik an der bestehenden Gesellschaft und zum unmittelbaren Zusammenstoss mit der staatlichen Autorität. Dieser Zusammenstoss ist das revolutionierende, nicht die heute nur zum kleinen Teil mögliche Sexualbefreiung.
Darum ist auch der Einwand, es könnte sexuell befriedigte Menschen geben, die nicht revolutionär, ja nicht einmal sozial eingestellt seien, nicht stichhaltig. Ja, solche Menschen kann es grwiss geben. D.h. ein sexuell wirklich (im Sinne der von der Sexualökonomie ent-
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deckten orgastischen Potenz) befriedigter Mensch kann niemals asozial oder faschistisch, wohl aber politisch inaktiv eingestellt sein. Aber solche Menschen finden sich grösstenteils in der Oberklasse. Die Werktätigen stossen bei dem Versuch, ein wirklich befriedigendes Sexualleben zu führen, fast immer auf gesellschaftlich bedingte Schwierigkeiten (Wohnungsmangel, Scheu des Partners, besonders der Frauen, vor Verhütungsmitteln, neurotische Einstellung des Partners, moralische Verurteilung einer freien Beziehung durch Gesellschaft und Kirche, ökonomische Unmöglichkeit, in einem gemeinsamen Haushalt zusammenzuleben etc.). Sobald sie diese Schwierigkeiten als gesellschaftlich bedingt erkennen, was heute grösstenteils nicht der Fall ist, werden sie politisch dagegen rebellieren.
Fassen wir zusammen ! Die Sex-Pol strebt an: a) Einbeziehung der Sexualpolitik in die revolutionäre Politik, b) eine veränderte Einstellung der revolutionären Führung zur Masse (Ausgehen von den Bedürfnissen, statt von der hohen Politik), c) die Erkenntnis des Kulturprozesses als gesellschaftlich bedingten Prozess der Umsetzung sexueller Energie, d) die theoretischen und praktischen Vorarbeiten für die Erziehung zu freien Menschen in einer sozialistischen Gesellschaft.
Damit werden auch die Argumente, wir erstrebten bloss eine Verbesserung der psychologischen Propaganda im Dienste der alten Führer, oder wir trieben nur Sexualpolitik, gegenstandslos. Denn Sexualpolitik umfasst nicht nur alles, was mit Geburtenregelung zusammenhängt, sondern viel mehr, wovon sich jeder Leser unserer Literatur überzeugen kann.
So trägt die Sex-Pol wesentlichen anarchistischen Forderungen Rechnung, ohne die durch Erfahrung erprobten marxistischen Auffassungen über Wirtschaftsstruktur oder die Rolle der Partei aufzugeben. Damit ist sie, könnte man sagen, die Einheit von Marxismus und Anarchismus auf marxistischer Grundlage.