Einleitung
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Geschichte der Philosophiehistorie(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)Griechische Antike
Gattungen: Doxographie | Biographie | Diadochographie | Häresographie Literaturhinweise
Dennoch scheint der ägyptische Priester, den Platon im Dialog "Timaios" auftreten läßt, auf einen damals als mißlich empfundenen Umstand hinzuweisen, wenn er sagt, die Griechen seien ewige Kinder, "weil die Überlebenden während vieler Generationen dahingingen, ohne daß sie sich durch die Schrift vernehmbar machen konnten." (Timaios, 23c) Zwar ist das Vorhandensein von Schrift und damit das Verfügen über die Erinnerungen vieler Generationen allein noch nicht ausreichend dafür, daß ein Volk diese Erinnerungen auch in schöpferischer Weise verwertet, aber Platon hält diesen Schatz von Generationen doch immerhin für etwas Wertvolles, vielleicht Notwendiges. Damit wird von ihm zugleich ein Programm vorgeschlagen - wir befinden uns im vierten vorchristlichen Jahrhundert, zwei Generationen nach Perikles, die griechische Einigkeit gegen die Perser ist längst an den Hegemonialinteressen der einzelnen Stadtstaaten zerbrochen -, nämlich das Programm, die großen Werke auf dem Gebiet des Denkens ebenso der Zukunft zu überliefern, wie der Historiker Herodot 150 Jahre zuvor die "érga méga kaì thaúmasta", die großen und wunderbaren Taten der Völker aufzeichnen wollte. |
Die ersten Formen der Philosophiehistorie, die ab der Zeit Platons entstehen, sind vor allem durch drei Merkmale gekennzeichnet:
Ein etwas anderes Bild bietet das sogenannte Mittelalter, eine Epoche von immerhin etwa 1000 Jahren. Im lateinischen, aber auch im griechischen und arabischen Mittelalter werden die Kenntnisse über frühere philosophische Entwicklungen - soweit sie überhaupt weitergegeben werden - durchaus nicht als Selbstzweck angesehen, sondern zum Zweck der Disputation, der Bildung und Widerlegung von Meinung angewendet. Hier werden die einzelnen, vielfältigen Daten aus der Denkgeschichte als Instanzen, als Autoritäten im weltanschaulichen Disput verwendet. An der grundsätzlich ungeschichtlichen Einstellung, an der Behandlung dieser Daten als voneinander unabhängiger, vereinzelter Gedankensachverhalte ändert sich dadurch kaum etwas. Unabhängig davon, ob die Nachrichten aus der Vergangenheit der Philosophie als Selbstzweck und an-sich-Wissenswertes betrachtet, oder ob sie zu polemischen und apologetischen Zwecken gegen oder für Religion, Wissenschaft und Philosophie selbst verwendet werden, gemeinsam ist dieser Epoche, daß der Gesichtspunkt, unter dem gesammelt wird, derjenige der Neugierde ist, die möglichst Interessantes wissen will und daher Banales und Zentrales bunt gemischt akzeptiert. Ein ähnliches Verhalten darf man, um eine Illustration zu geben, wohl bei den meisten heutigen Konsumenten von Tagesnachrichten in den Medien annehmen, wo ebenso Wichtiges und Unwichtiges bunt gemischt geboten und genommen wird, solange es nur interessiert, ohne daß dabei durch Einsicht in Gesamtzusammenhänge oder Gesetzmäßigkeiten ein strukturiertes Bild entstehen muß. Auf dem Gebiet der Philosophiehistorie hat sich jedoch seit dem 18. Jahrhundert ein anderer Gesichtspunkt als derjenige einer auf Interessantes gerichteten Neugierde durchgesetzt: man fragt immer wieder nach einem inneren Zusammenhang des Gegenstands, nach einem leitenden Plan, nach einer Entwicklung, einem Fortschritt oder Rückschritt, nach Irrtum und Erkenntnis.
Innerhalb der gemeinsamen Voraussetzung, daß Daten aus der Vergangenheit der Philosophie an sich wissenswert seien, haben sich in der Antike verschiedene Modelle entwickelt, wie man diesen interessanten Stoff ordnen und darlegen könnte. Diese Ordnungsvorstellungen orientieren sich jeweils an einem Punkt, der aber nichts mit der Philosophie zu tun haben braucht: er kann ebenso treffend in beliebigen Sammlungen anderer historischer Sachverhalten angewendet werden. Zumindest passen diese Orientierungspunkte für alle Erkenntnisbereiche der Vergangenheit, zum Teil für historische Sachverhalte im allgemeinen. Solche Punkte waren beispielsweise: bestimmte Wirklichkeitsbereiche (wie Tiere, Wetter, Himmelserscheinungen usw.), das Lebensganze bestimmter Menschen, die Abfolge von Meistern und Jüngern, oder der Zusammenhalt einer bestimmten Gruppe oder Sekte. Man kann die aus diesen Orientierungshilfen entstandenen historisch-literarischen Formen als Doxographie, Biographie, Diadochographie und Häresographie bezeichnen. Sowohl die Auswahl als auch die Anordnung und Darstellung des historisch Gegebenen ist in diesen Formen jeweils spezifisch verschieden; dazu vgl. in der Einleitung zu Typen von Philosophiehistorie.
Bevor ich auf diese mehr oder weniger rein auftretenden Formen und ihre Repräsentanten näher eingehe, werde ich die beiden überragenden Systematiker der athenischen Periode der Philosophie kurz schildern, sofern sie für ein Verständnis der Philosophiehistorie Bedeutendes geleistet haben. Platon und Aristoteles bilden Ausnahmen von der Regel, wonach die Vergangenheit des Denkens für die Philosophie selbst keinen systematischen Erkenntniswert in der Sicht der antiken Denker darstellt.
Wozu das komplizierte Verfahren? Platon hätte, wie viele vor und nach ihm, einfach und schlicht als monologisierender Lehrer auftreten, seine Gedanken darlegen und sich weiter wenig darum kümmern können, was der und jener in derselben Frage meint. Platon läßt Sokrates das Verfahren mit einer für ihn wahrscheinlichen Mutmaßung begründen, die als die These von der Wiedererinnerung, der "Anámnesis", bekannt ist: alle diese undeutlichen, einander und gelegentlich sich selbst widersprechenden Meinungen seien dunkle Erinnerungen der Menschen an die Wahrheit, welche die Seele in der wirklichen Welt, in der sie vor ihrem jetzigen Leben existiert habe, und in der alles klar und einsichtig sei, schon einmal erkannt und gewußt habe. Direkt sei uns jene Welt jetzt weder mit unseren Sinnen, noch mit dem Verstand zugänglich, aber sie sei uns doch auch nicht ganz unbekannt: erstens gebe es Bereiche in unserer ständig sich wandelnden Welt, die unmittelbarer als andere Bereiche jene wirkliche, unwandelbare, ewige Welt abbilden - in erster Linie die Mathematik. Zweitens aber könnten wir durch den kritischen Vergleich unserer Mutmaßungen über nichtmathematische Sachverhalte auch bei diesen der Wirklichkeit nahekommen. Platon sieht also die Möglichkeit, bei Sachverhalten, die nicht mit mathematischer Gewißheit zugänglich sind, durch den Vergleich von Meinung und Gegenmeinung, Satz und Gegensatz, sich der ewig gleichen, in dieser irdischen Existenz jedoch nur halb bekannten, halb vergessenen Wahrheit zu nähern. Nicht zufällig hat Freud für seine Methode des Bewußtmachens von Unbewußtem, von nicht ohne weiteres Erinnerbarem, denselben Terminus gewählt wie Platon für das in-Erinnerung-Bringen der Welt der "Ideen" oder grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit: "Anamnese". Nur wird in der Psychoanalyse Erlebtes erinnert, das grundsätzlich in diesem Leben erlebt und dann vergessen oder verdrängt wurde, wogegen Platon glaubt, Erkenntnisinhalte erinnern zu können, die vor diesem Leben von der Seele erfaßt worden seien.
Wenn Platon nun in seinen Dialogen verschiedene Meinungsträger mit Sokrates diskutieren läßt, so berichtet er dabei nicht einfach in einer referierenden Haltung diese Meinungen seiner Vorgänger und vielleicht Zeitgenossen, er betrachtet sie nicht einmal als Vorgänger in einem zeitlichen oder entwicklungsmäßigen Sinn; Platon will nicht historische Kenntnisse vermitteln, wenn er Protagoras oder Gorgias sprechen läßt. Diese wie alle anderen Philosophen sind mit ihm selbst im Vergleich zur wirklichen, ewigen, unwandelbaren Welt der Ideen oder Strukturen allesamt "gleich-zeitig". Sein Dialog mit ihnen, das Sprechenlassen aller möglichen Meinungsträger, ist seine Methode der Wahrheitsfindung, und daß dies so ist, hat seinen Grund darin, daß die für Platon-Sokrates wahrscheinlichste Mutmaßung über die Wirklichkeit in der Lehre von der unveränderlichen Existenz der Allgemeinbegriffe und Gesetze, kurz der "Ideen" ist. Dies ist zugleich eine erkenntnistheoretische, eine ethische, eine kosmologische und anthropologische These, und sie leitet auch sein Verständnis von der Geschichte des Denkens.
Doch scheinen die Meinungen der Alten für Platon auch wieder nicht nur deswegen von Wert zu sein, weil sie Wahrheitsspuren darstellen, die im Dialog zu kritisieren und auf ihren Gehalt zu prüfen sind. Er schätzt auch die Mythen und Fabeln, die nicht wahrheitsfördernden Meinungen; was die Alten gesagt haben, kann zwar unverständlich und dunkel sein, es ist deshalb noch nicht wertlos:
"ob nun an dem allen einer von ihnen etwas Wahres gesagt hat oder nicht, das ist schwierig, und es ist wohl auch frevelhaft, so hochberühmten Männern des Altertums Vorwürfe zu machen." (Sophistes, 243a)Auch diese Ehrfurcht vor dem Alten, die uns in der Vorliebe der Humanisten zugunsten der Antike wieder begegnen wird, und die erst die Philosophen der Aufklärung entschieden zurückweisen, hat ihren Grund in Platons Auffassung vom Verhältnis der sinnlich erfaßbaren Welt zur Welt der Ideen. Der "Demiurg", der Weltmacher, ein Ingenieur und kein Schöpfergott, hat diese Welt zeitlich begrenzt konzipiert. Nach Ablauf des Großen Jahres - ein Zeitraum, der ebenso wie das Sonnenjahr eine astronomisch feststellbare Größe ist - wird sie zugrundegehen, und eine neue Welt wird gemacht. Die Alten, von denen uns die Mythen überkommen sind, lebten in einer früheren, jüngeren Phase der jetzigen Welt, in der sie wohl einiges sehen konnten, was uns Zeitgenossen der späteren Phase nicht mehr erkennbar ist. Auf diese Vorstellung, die für das Geschichtsverständnis weitreichende Konsequenzen hat, braucht jedoch im Zusammenhang mit der Philosophiehistorie erst bei den Humanisten näher eingegangen zu werden.
Aristoteles dagegen hat Vorläufer, es gibt eine Entwicklung des Denkens bis zu ihm herauf. Die Alten hatten - nach seiner Interpretation - "eigentlich" von den "archaí", von den Prinzipien gesprochen, wenn sie wie Thales das Wasser als Urstoff, oder wie Pythagoras die Zahl als Urform ansahen. Aristoteles übersetzt daher die Lehren der Alten in ihre richtige Begrifflichkeit, das heißt in diejenige, die er nunmehr gefunden hat, in seine eigene. Man hat Aristoteles den Vorwurf gemacht, er habe die früheren Texte und Denker damit nicht nur übersetzt, sondern entstellt. Dieser Vorwurf und die Geschichte der Versuche, ihn zu entkräften, ziehen sich durch die Geschichte des Aristotelismus von Porphyrios bis in die Gegenwart. Ich will hier nicht entscheiden, ob Aristoteles ein zuverlässiger Referent oder ein Geschichtsfälscher gewesen ist; die Neigung, alles dem eigenen Gedankengang zu assimilieren, ist ihm aber nicht abzusprechen.
Es bleiben jedenfalls zwei Dinge: erstens überliefert uns auch Aristoteles viele Nachrichten aus der Frühgeschichte des griechischen Denkens, die wir nur durch ihn kennen. Zweitens hat Aristoteles als erster, und für sehr lange Zeit als einziger, den Gedanken von einer Entwicklung des philosophischen Denkens ausgeführt.
Vor allem das zweite Verdienst des Aristoteles ist für eine Durchsicht der Geschichte der Philosophiehistorie von Interesse. Aristoteles hat mehrere Voraussetzungen gemacht oder zuweilen sogar genannt, die uns erst in der Zeit um Kant von neuem begegnen.
So verwendet Aristoteles das Interpretationsprinzip, daß der Philosophiehistoriker die von ihm behandelten Autoren besser verstehen müsse - und dies auch könne -, als diese Autoren sich selbst verstanden haben; Anaxagoras, so schreibt er, habe den Sinn seiner eigenen Worte nicht verstanden. (Perí genéseos, 314a).
Zweitens versucht Aristoteles, wie später Hegel, zu erklären, warum die reale Geschichte der Philosophie nicht mit der vernunftgemäßen Ordnung der Begriffe zusammenstimmt, und er wendet dabei ein Erklärungsmuster an, das wir in der Zeit der Aufklärung bei J. Brucker wieder finden werden: es gebe störende Wirkursachen, welche die Wirksamkeit der Zielursachen des Vernunftgebrauches verzögern oder verhindern. Damit erkläre sich der Irrtum im Verlauf der Geschichte der Philosophie.
Drittens sieht Aristoteles in der Entwicklung der Philosophie nicht etwas bloß Zufälliges, sondern etwas Notwendiges, gesetzmäßig Geordnetes: von Thales an, der ein Prinzip gefunden habe, dränge das Denken immer weiter, bis schließlich (durch Aristoteles) alle vier Prinzipien gefunden und begrifflich erfaßt sind.
Mit diesen Voraussetzungen einer Theorie der Philosophiegeschichte ist Aristoteles in der Antike und bis weit in die Neuzeit hinein allein geblieben, und es ist wahrscheinlich, daß seine antiken, mittelalterlichen und humanistischen Leser diese bedeutsamen Züge des ersten Buches der "Metaphysik" nicht bemerkt haben. Er kann daher mit seinen methodologischen Annahmen nicht als Vorläufer der späteren Philosophiehistorie angesehen werden, wenn auch einzelne Formen, wie die Doxographie und die Diadochographie von seinem Vorbild angeregt worden sind.
Doxographisches Wissen um die Geschichte der Philosophie ist noch heute weit verbreitet: wenn wir beispielsweise von einem Philosophen nur einzelne, entscheidende Ideen, markante Aussprüche (das "cogito ergo sum", den "kategorischen Imperativ"), ein paar Buchtitel oder eine Traditionszuordnung kennen, verbleiben wir in diesem Bereich. Auch dann übrigens, wenn wir, ohne auf das Gesamtsystem einzugehen, ohne auf Schul- und Traditionszusammenhänge zu achten, die einzelnen Thesen vieler Autoren zu einem bestimmten, gegenwärtig diskutierten Problem zusammenstellen, verfahren wir doxographisch.
Sotíon gehorcht nur der Konsequenz seines Gesichtspunkts, wenn er auch die Frage nach dem Ursprung der Philosophie und dem Zusammenhang der einzelnen Schulen untereinander stellt. Hierbei stellt er zwei Traditionsreihen auf: die eine beginnt mit Thales und führt zur mittleren Akademie und Chrysipp; die andere beginnt bei Pythagoras und führt zu den Skeptikern und Epikur. Diese Trennung der jonischen und der italienischen Tradition wird später von Diógenes Laértius übernommen und überdauert als Gliederungsmittel immerhin anderthalb Jahrtausende, wie der Abschnitt über antike Philosophie bei Brucker (1742) zeigt.
In einer dritten Hinsicht allerdings ist das Werk des Diogenes Laertius sehr umstritten: in seiner historischen Zuverlässigkeit und philosophischen Kompetenz. Mängel in dieser Hinsicht sind offensichtlich. Woher dann der enorme Erfolg?
Immer wieder -von Montaigne an - findet sich der Hinweis, daß die Leichtgläubigkeit des Diogenes ihn gerade davor bewahrt habe, allzu streng und systematisch mit den ihm zugänglichen und uns nicht mehr zugänglichen Quellen umzugehen. Dadurch habe er zwar oft Unsinniges und wahrscheinlich auch Unverstandenes abgeschrieben, andererseits aber doch auch eine Fülle von nützlichen Nachrichten als unser einziger Zeuge überliefert. Neben diesem Effekt, den Diogenes wohl gegen seinen Willen erzielte, ist es vor allem die Umfassendheit seiner Darstellung, die ihm den unbestritten führenden Rang unter den antiken Philosophiehistorikern verschafft. Er hat nicht, wie andere Autoren, die Meinungen, Lebensumstände und Schulbildungen der Alten berichtet, um seine eigene Position zu begründen, sondern er betrachtet die Gesamtheit der philosophischen Vergangenheit um ihrer selbst willen. Durch seine umfassende Darstellung ist Diogenes - und nicht der Systematiker Aristoteles oder seine mehr oder weniger literarisch-systematischen Nachfolger zur Quelle der Philosophiegeschichte für Kommentatoren, christliche Apologeten, Kompilatoren usw. für sehr lange Zeit geworden. Auch moderne Ausgaben und Übersetzungen beweisen das Interesse an dieser Quelle.
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