Einleitung

VL 1: Griech. Antike

VL 2: Chin. Antike

VL 3: Mittelalter

VL 4: Humanismus

VL 5: Aufklärung

VL 6: Österreich 18. Jh.

VL 7: Fortschritt u. Kant

VL 8: Hegel

VL 9: Marxismus


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Geschichte der Philosophiehistorie

(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)

Philosophiehistorie zwischen Humanismus und Polyhistorie


Autoren bzw. Schulen: Bacon | Descartes | Stanley
Biblische Geschichte | Polyhistorie: Morhof

Literaturhinweise


Die 'Wiedergeburt der Wissenschaften und Künste', wie die Renaissance früher bezeichnet wurde, fußt auf dem Gebiet der Philosophiehistorie wesentlich auf der Übersetzung der großen Originaltexte des Griechentums, wie sie uns etwa in Wilhelm von Moerbeke begegnet, der im 13. Jahrhundert aristotelische Bücher für Thomas von Aquin aus dem Griechischen übersetzt hat. Aber es blieben immer noch viele Texte unzugänglich, als die letzte Phase des oströmischen Kaisertums und schließlich der Eroberung Konstantinopels durch die Türken zu einer Befruchtung der westlichen Wissenschaft durch griechische Emigranten führte.

Das 15. Jahrhundert in Italien (1468 gründet Bessarion die platonische Akademie in Florenz) ist in der Philosophie vor allem durch ein Aufblühen des Platonismus gekennzeichnet, aber auch dadurch, daß nun die zahlreichen weniger berühmten Schriftsteller und Bücher der Antike bekannt werden. Auch die ersten Philosophiegeschichten werden jetzt gedruckt: 1472 eine Kompilation über 119 Philosophen des Altertums, die allerdings noch gänzlich unkritisch in philologischer und historischer Hinsicht bleibt. Ihr Autor ist Gualterus Burlaeus (Walter Burleigh, 1275 - 1340), ein Schüler des Duns Scotus. 1475 erscheint das Werk des Diogenes Laertius erstmals im Druck.

Die Übersetzungen und der Buchdruck stellen, ebenso wie die neue Gelehrtenschicht außerhalb der theologisch (in Frankreich) oder medizinisch und juristisch (in Italien) orientierten Universitäten, jene Bedingungen dar, unter denen die Disziplin der Philosophiehistorie nun neue Formen und Standards entwickelt. Der Buchdruck spielt dabei insofern eine große Rolle, als sich mit dieser Form des Reproduzierens die Gewohnheiten des Lesens, Studierens und Kommentierens grundlegend ändern. Man liest nicht mehr in Gruppen, sondern allein; die Texte werden erschwinglich und zugänglich, sodaß man nicht mehr so sehr aufs Vorlesen angewiesen ist; jeder Leser hat garantiert den selben Text, Zitationen gibt man nicht mehr nur so ungefähr weiter, sie werden wortwörtlich, und der Leser eines Zitats hat jederzeit die Möglichkeit, dieses im Sinnzusammenhang aufzusuchen. All das sind Merkmale, die die Form der wissenschaftlichen Forschung und Veröffentlichung verändern, und die auf dem Gebiet der Philosophiehistorie zuerst einmal dazu führen, philologisch-kritische Texte zu erstellen.

Bevor wir uns diesen neuen Bemühungen zuwenden, die Vergangenheit der Philosophie - wobei es sich in erster Linie um die antike, nicht die zeitgenössische Philosophie handelt, wenngleich nicht nur die Griechen und Römer, sondern auch die "Barbaren" und die "vorsintflutlichen" Philosophen von Adam an in den Blick kommen - bekanntzumachen, ist es notwendig, auf die Frage einzugehen, welches Interesse daran überhaupt bestand. Dabei stellen wir fest, daß die großen geistigen und sozialen Umwälzungen etwa des 16. Jahrhunderts nicht unbedingt von Kräften ausgingen, die an der Weltweisheit der Griechen besonders interessiert gewesen wären. Zwar wendet sich die Reformation gerade auch in der Geschichtsschreibung gegen die jahrhundertelang herrschenden Richtungen, aber sie stützt sich auf einen neuen, unmittelbareren Zugang zu den Quellen der Religion: die ehemalige ancilla wird jetzt oft als Hindernis angesehen. Luther schätzt den Aristoteles als "hundertmal dunkler als die Schrift" ein, und will ihn aus dem Unterricht erst einmal ganz beseitigen. Nur Cicero, der Praktiker, hat seine Hochschätzung. So lesen wir in einer von Luthers "Tischreden":

Cicero übertrifft Aristotelem weit in Philosophia und mit Lehren ... "Aristoteles ist zwar ein guter und listiger Dialecticus gewesen, der den Methodum und richtigen ordentlichen Weg im Lehren gehalten hat; aber die Sachen und den rechten Kern hat er nicht gelehrt, wie Cicero. Wer die rechtschaffene Philosophia lernen will, der lese Ciceronem."
(Dr. Martin Luthers Tischreden oder Colloquia. Leipzig: Reclam 1878, S. 359)
Dies ist nicht durchgehend die Auffassung der reformierten Theologen und Bildungsplaner: schon Philipp Melanchthon etabliert das Studium des Aristoteles wieder in seinem Lehrplan.

Das wahre Licht der Vernunft leuchtet für die neuen Christen der Reformation nur in der Offenbarung, und die vergangene Philosophie wird noch bis zu Budde und Brucker im 18. Jahrhundert als ein Herumirren unter lauter mehr oder weniger abstrusen Gedanken erscheinen, das erst mit der Offenbarung durchschaubar und beurteilbar geworden ist.

Der Rückgang auf die wahren Quellen der Religion ist jedoch nicht die einzige Form des Protests gegen die herrschende Form des Offenbarungsglaubens in dieser Zeit. Die politische und wirtschaftliche Emanzipation von den alten Mächten des Papsttums und des Kaisertums findet ihre Entsprechung im Rückgriff der Gebildeten auf das Vorbild der heidnischen Antike, deren Hervorbringungen auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft als klassisch betrachtet werden. Zugleich legen die neuen Entdeckungen und Erfindungen auf dem Gebiet der 'Naturphilosophie' - die sich als 'Naturwissenschaft' von der 'Philosophie' abzutrennen beginnt - wie auf technischen Gebieten den Gedanken nahe, daß die natürliche Weisheit doch mehr sein könnte als ein Lückenbüßer der Theologie. Das moderne Bewußtsein mißt die eigenen Errungenschaften an der Antike, es findet dort seine Vorbilder in Geschichts- und Staatswissenschaft (Livius), in der Architektur (Vitruv), der Medizin (Galen) usw., von denen es zu lernen und die es gerade dadurch zu übertreffen sucht. Machiavelli entwirft nicht mehr einen christlich-richtigen Staat, sondern sucht bei den heidnischen Römern die vernünftigen Regeln zur Leitung einer erfolgreichen Regierung; sein "Fürst" ist aus dem Kommentar zu Livius erwachsen, usw. (Vgl. dazu die Reflexionen von Jean Bodin über den Fortschritt in der Geschichte; Skriptum Geschichte der Geschichtsphilosophie 1, 1992)

Daß eine Vorliebe, geradezu ein Vorurteil für die Antike und deren Errungenschaften bestimmend ist, zeigt sich bei den ersten methodisch vorgehenden Geisteswissenschaftlern der Neuzeit, den Philologen, die nun immer bessere, genauere, kritischere Textausgaben erstellen. J. Lipsius gibt 1604 seine "Hinführung zur stoischen Philosophie" heraus und bezeichnet damit das Wiederaufleben stoischen Denkens. Aber Lipsius ist kein Stoiker, er ist Eklektiker; nur in der Morallehre scheint ihm - nach geduldigen Vergleichen - die Stoa das Beste zu bieten. Von den Philologen dieser Zeit, deren Forschungen die alten Schulen der Griechen und Römer von neuem bekannt machen, seien hier nur ein paar Namen angeführt: I. Casaubonus (1559 - 1614), Joseph Justus Scaliger (1540 - 1609) und Henricus Stephanus (Henri Estienne, 1531 - 1598), welch letzterem wir noch heute in der Seitenangabe unserer Platon- und Aristoteleszitate Reverenz erweisen.

Alle alten Gattungen der Philosophiehistorie (vgl. VL 1) finden im 16. Jahrhundert neue Vertreter, worauf hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann.


Francis Bacon von Verulam


Neue Forderungen auch für diesen Bereich formuliert jedoch Francis Bacon (1561 - 1626); es handelt sich um folgende Postulate:

Die Aufarbeitung der Geschichte der Philosophie stand also nach Bacons Absicht in einem systematischen und zugleich einem kulturpolitisch-technischen Zusammenhang mit der gegenwärtigen und der zukünftigen Philosophie.

Bacons Programm kann zwar nicht durchgeführt werden ohne die akribischen Methoden philologischer Kritik. Aber die Philologie von sich aus hat dieses Programm nicht entwickelt, aufgrund ihres auf Authentizität beschränkten Interesses nicht entwickeln können. Der Philosophiehistoriker der Aufklärung, der sich ausdrücklich auf Bacons Programm berufen wird, ist Heumann.


René Descartes

Zunächst blieben Bacons Forderungen allerdings ein bloßes Programm, denn die europäische Philosophie drehte sich um eine zentrale Frage, für die aus der Geschichte der philosophischen Meinungen scheinbar nichts zu gewinnen war. Es ist die Frage, ob unsere gewissen Erkenntnisse aus der Sinneserfahrung oder aus der Vernunft stammen. Daß sie nicht aus einer Untersuchung fremder Meinungen oder sonst woher außerhalb von Vernunft und Sinneswahrnehmung stammen, darin sind sich Rationalisten und Empiristen einig. Descartes, der bestimmende Rationalist des 17. Jahrhunderts, verwirft das gesamte, seit Generationen emsig zusammengetragene philologisch-historische Wissen mit einem Federstrich:
"bei den von uns vorgenommenen Gegenständen dürfen wir nicht das, was andere darüber gemeint haben, noch was wir selbst mutmaßen, untersuchen, sondern allein das, was wir durch klare und evidente Intuition oder durch sichere Deduktion darüber feststellen können, denn auf keinem anderen Wege kann die Wissenschaft erworben werden." (3. Regel zur Leitung des Geistes)
Descartes hält das Reden über historisch nachweisbare philosophische Meinungen nicht nur für belanglos, sondern für gefährlich: man könnte Gefallen an den Abstrusitäten der Alten finden und damit seine eigene Urteilsfähigkeit verlieren. Deshalb interessiert Descartes auch nicht, ob Epikur, wie Gassendi sagt, dem Aristoteles vorzuziehen sei, oder ob die Stoa die besten Morallehren habe; was gewußt werden kann, kann aus klaren und distinkten Begriffen abgeleitet werden, dazu braucht es weder einen Aristoteles, noch einen Demokrit oder Epikur.

Es ist durch die Forschungen über die scholastische Philosophie des Hochmittelalters unterdessen offensichtlich geworden, wie viel an Begriffsbildungen, Assoziationen und stillschweigenden Voraussetzungen Descartes von seinen Vorgängern übernommen hat, und daß also zumindest er selbst nicht ein perfekter Cartesianer war. Er tut durchaus nicht immer, was er fordert: einzig und allein den zwingenden Intuitionen seiner Vernunft zu folgen. Die cartesische Kritik an Praxis und Methodologie der Geschichtsschreibung blieb indessen nicht ohne Wirkung; aber sie bewirkte nicht, daß die Gelehrten nun jede Beschäftigung mit historischen Sachverhalten aufgegeben hätten, sondern sie bewirkte, daß neue kritische Methoden in diesem Bereich entwickelt wurden. Descartes selbst spricht ja von einem Ideal, das er in "treuesten historischen Berichten" sieht, die "den Wert der Dinge weder verändern noch erhöhen" (Von der Methode).

Dies wäre, so meint er, erreicht, wenn die Geschichtsschreibung alle Umstände im Zusammenhang mit ihrem Gegenstand berichtete. Niemand, und wäre er noch so sehr dem Ideal einer exakten Wissenschaft verhaftet, würde heute so etwas fordern: erstens ist längst klar geworden, daß eine zutreffende Beschreibung auch in den Naturwissenschaften immer nur eine Auswahl von - allerdings relevanten, aber relevant in Hinsicht auf Hypothesen - Umständen bieten kann, daß das Postulat einer absoluten Vollständigkeit selbst hier kein Ideal sein kann, und zweitens beginnt sich mehr und mehr auch die Einsicht durchzusetzen, daß eine Beschreibung menschlicher Handlungen oder Verhaltensweisen über eine solche theorienabhängige Auswahl hinaus auch schon im Konstatieren und Benennen der Dinge nicht einfach neutral beobachtend ist. Descartes jedoch scheint dies nicht bedacht zu haben, sein Ideal ist die Vollständigkeit, und dieses Ideal bestimmt nun auch, zusammen mit einer neu definierten Exaktheit, die philologischen Disziplinen. Leibniz hat diese Neuorientierung der Geschichtswissenschaft bemerkt. "Cette exactitude que les vrais savants demandent aujourd'hui s'est répandue jusque dans l'histoire, qui en parait la moins susceptible." (Leibniz: Entwürfe zu seinen Annalen)

Neben dem Ideal der Exaktheit und Umfassendheit ist ein zweiter Zug der neuen Geschichtsschreibung von cartesischem Denken beeinflußt: wenn man mit Descartes die Welt als etwas grundsätzlich mathematisch Geordnetes auffaßt (und nur auf eine solche Welt paßt die Erkenntnismethode durch Intuition und Deduktion), so sind die wunderlichen Dinge zwischen Himmel und Erde zu Recht nicht Gegenstand der Schulweisheit, denn sie sind, da nicht klar erfaßbar, unmöglich; oder doch zumindest etwas, worüber man nicht ernsthaft sprechen kann. Der neue Philologe und Historiker hat damit zugleich auch einen kritischen Raster: er braucht sich nicht darauf zu beschränken, nur möglichst genau wiederzugeben, was er in seinen Quellen vorfindet. Dies tat ja noch die von Protestanten und Katholiken in heftiger Auseinandersetzung entwickelte "Diplomatik" im 16. und 17. Jahrhundert. Pierre Bayle aber, der bereits über Möglichkeiten der inhaltlichen historischen Kritik verfügt, kritisiert z.B. Diogenes Laertius, wenn dieser in seinen Augen Unsinn redet, auch dann, wenn der Text ganz sicher überliefert ist.

Damit in engem Zusammenhang steht die Trennung von Natur und Geschichte als Gegenständen der Erkenntnis. Über die Natur sind nach Descartes gewisse Erkenntnisse möglich, nicht aber über den großen Bereich des Fühlens und Wollens. Die Ethik klammert Descartes bewußt von seinem methodischen Zweifel aus, damit aber bleibt er nicht nur bei einer traditionellen Ethik stehen, sondern verzichtet zugleich darauf, in diesem Bereich Wissen von Nichtwissen abzugrenzen und regelgerechte Erkenntnis zu erlangen. Erst G. Vico in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternimmt den im übrigen lange unbeachteten Versuch, eine "Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker" zu entwickeln, also eine Theorie über die grundlegenden Verhaltensmaximen und Denkformen der Geschichte der Menschheit, die zugleich eine Methodologie der Rekonstruktion dieser Geschichte enthält.

Was übrigens die Kritik historischer Nachrichten mit Hilfe der Kenntnis von Naturgesetzen - das Fundament jeder neuzeitlichen Archäologie - betrifft, so hätte die Geschichtsschreibung hierzu bereits eine differenzierte Diskussion bei dem arabischen Historiker Ibn Khaldun (1332 - 1406) vorfinden können. Sein Werk, das allerdings erst im 19. Jahrhundert ins europäische Blickfeld geriet, enthält eine methodologische Reflexion über den möglichen Wahrheitsgehalt und den Wahrscheinlichkeitsgrad historischer Nachrichten, wobei die Kriterien hierfür dem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Kulturepoche entsprechen.

Wenden wir uns nach diesen allgemein das Geschichtswissen betreffenden Bemerkungen wieder der Philosophiehistorie zu, so treffen wir auf einen cartesianischen Philosophen, Sylvain Regis (1632 - 1707), der in seinen "Cours entier de la philosophie, ou système général selon les principes de Descartes" (1680) eine Darstellung der Philosophiegeschichte eines anderen Cartesianers, Pierre Coste, aufnimmt. Coste ist ein Philosoph, kein Philologe oder Historiker, und das muß zunächst beachtet werden. Zweitens fällt auf, daß er das Vorurteil zugunsten der Antike gleich eingangs kritisiert: die Modernen seien vielmehr der Antike in allem überlegen. Drittens ist für Coste die Philosophie eine exakte Wissenschaft, die nahtlos in die anderen modernen exakten Wissenschaften übergehe: Galilei, Kopernikus, Gassendi und Descartes seien ihre bedeutendsten Vertreter. Sie stellen eindeutig einen Fortschritt gegenüber der alten Philosophie und Wissenschaft dar. Viertens lehnt Coste die sogenannte orientalische Philosophie strikte ab, dies sei überhaupt keine Philosophie, sondern eine "mit Aberglauben durchsetzte Theologie". Aber auch die Griechen, bei denen er die Philosophie beginnen läßt, hatten noch - wie Thales - die lächerliche Meinung, die Welt sei voller Geister, oder sie betrieben - wie die Pythagoreer - eine Arkandisziplin, welche die Autoritätsgläubigkeit zur Voraussetzung hatte. Sokrates und Aristoteles hingegen werden gelobt, denn diese suchten eine Methode des Denkens zu begründen, und sie hielten wenig von Autoritäten. Der Überblick, den Coste gibt, ist neuartig, die Beurteilungen werden von einer systematisch entwickelten gegenwärtigen Philosophie aus gefällt, und sie werden auch entsprechend den methodologischen Regeln dieser Philosophie begründet. Das Vorurteil der Philologen für das Antike wird hier erstmals systematisch und grundlegend kritisiert. Auch ist es neu, daß ein Philosoph als Philosoph sich mit der Geschichte der Philosophie auseinandersetzt und die vergangenen Gestalten der Philosophie durchgehend im Vergleich mit der eigenen, als endgültig erachteten Philosophie schildert und beurteilt.

Folgenreicher für die Entwicklung der Disziplin als dieser cartesianische Versuch - mit dem man in der Gegenwart vielleicht Hans Reichenbachs Buch über die "Entstehung der wissenschaftlichen Philosophie" vergleichen könnte - sind allerdings die Werke einer cartesianisch reformierten Philologie. Wir können hier diese Unternehmungen nicht im einzelnen betrachten. Erwähnung verdient jedoch, daß insbesondere in der holländischen Philologie des 17. Jahrhunderts Arbeiten entstanden sind, die in wesentlichen Belangen die Wissenschaftsauffassung des Descartes aufnehmen. Zwar werden hier immer noch Texte, die als 'philosophische' traditionell überliefert sind, nach Rubriken zusammengestellt, aber es zeichnet sich - etwa im Werk von Georg Horn(ius) "Historiae philosphicae libri VII etc." (1655) das Ideal der Exaktheit und Umfassendheit ebenso ab wie der Gedanke von einem kontinuierlichen Fortschritt. Letzteres führt wie natürlich wieder dazu, Antworten auf die Frage zu geben, wo und wann dieser Prozeß begonnen habe. Horn spricht von der Philosophie vor der Sintflut - z.B. der Kainiten und Sethiten -, von der Philosophie der Barbaren usw. Dies sind Kapitel, die auch Brucker im 18. Jahrhundert noch ganz selbstverständlich behandelt. Übrigens gliedert Horn sein Werk nach einem grundlegend von den bisherigen Kompendien abweichenden Plan, und Heumann (1715) wie Brucker (1742) bescheinigen ihm, der erste gewesen zu sein, der die Geschichte der Philosophie nicht nach einem außerphilosophischen, sondern nach einem gerade für sie passenden Schema geordnet habe.


Thomas Stanley

In England erscheint 1655 das letzte große Werk der philologisch-humanistischen Geschichtsschreibung: Thomas Stanleys (1625 - 1678) "The history of Philosophy" (lat. von Olearius 1711); es umfaßt mehr als 1200 Seiten in Quartformat. Stanley betreibt noch ganz den Kult der Antike, die Alten hätten eigentlich schon alles gewußt, man müsse ihre Meinungen daher aus den Textruinen wieder rekonstruieren, aber man solle sich davor hüten, sie zu kritisieren. Abgesehen von seiner Umfassendheit ist Stanley vor allem durch zwei Ideen bemerkenswert: erstens stellt er eine neue Zeitrechnung der "aera philosophica" auf, zweitens gibt er neue Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der Philosophie.

Die "aera philosophica" läßt Stanley mit dem Zeitpunkt beginnen, als im 3. Jahr der 49. Olympiade (= 582 v.Chr.) Thales und andere zum ersten Mal mit dem Titel "sophos" bezeichnet worden seien. Ein bemerkenswerter Einfall: hier beginnt eine Ära in dem Augenblick, wo etwas Besonderes erkannt und benannt wird. Der Ausgangspunkt liegt nicht in einem Lebensdatum - der Geburt oder der "akmé" eines Autors wie Thales, Pythagoras oder Sokrates - sondern dort, wo die Rezeption stattgefunden und erstmals zu einer bewußten Benennung geführt hat. Nach Stanleys Chronologie ist Sokrates im Jahre 113 der "aera philosophica" geboren. Dieser eigenwillige Versuch Stanleys, eine disziplinspezifische Zeitrechnung einzuführen, ist in der Philosophiehistorie indessen nicht aufgegriffen, nicht einmal von ihm selbst wirklich durchgeführt worden.

Den Ursprung der Philosophie setzt Stanley nicht bei den von ihm so sehr verehrten Griechen an, sondern läßt sie in einer Vorgeschichte der "aera philosophica" im Orient bei Chaldäern, Persern und Arabern beginnen. Allerdings kann er kein präzises Kriterium angeben, warum er die Ägypter und Hebräer etwa von dieser Reihe ausschließt, er kann nicht ausschließen, daß der Sache nach auch andere als die von ihm behandelten Traditionen in die Geschichte der Philosophie einzubeziehen wären, aber im Zweifelsfall hält er sich - und erweist sich darin als Philologe - an die besser bezeugten Überlieferungen. Er steht im Übergang vom philologischen zum systematisch-philosophischen Interesse an der Geschichte der Philosophie. Was er aber aufnimmt und darstellt, das schildert er mit einer Genauigkeit, "wie man dies getreuer nicht tun kann. " (Jean le Clerc in der Ausgabe 1711)


Biblische Geschichte der Philosophie

Als Vertreter einer Richtung der Philosophiehistorie, die sehr stark an der Bibel orientiert ist und im Lauf des 17. Jahrhunderts bemerkenswert einflußreich war, kann Paul(us) Bolduan(us) stehen, der 1616 seine "Bibliotheca philosophica" herausbringt. In der "epistula dedicatoria" findet sich da eine überraschende Geschichte: Adam und Eva hätten ein "coetum scholasticum" gebildet, indem sie Gott lobpreisten und theoretische Untersuchungen über die Schöpfung anstellten. Adam als der erste Schüler des ersten Meisters, habe somit das "specimen philosophicum" begründet und Eva war seine erste Schülerin. Von Generation zu Generation wurde diese Urweisheit weitergegeben, und noch Noah habe in der Arche seine Söhne gelehrt; später folgten die Schulen des Abraham und des Moses, wobei der letztere einen "coetus docentium et discentium", also eine Art Akademie begründet habe (die "Leviten"), die bis zur Ankunft Christi bestanden habe. Auch die Propheten werden als Philosophen betrachtet, und während des Exils der Juden in Babylon habe sich ihre Weisheit auch unter den Orientalen verbreitet, sei nach Persien gelangt, von wo dann die "Magi" gekommen seien. Jesus selbst sei dann der wahre Meister gewesen, habe sich auch als solcher deklariert (Math. 23,8) und eine neue, endgültige Weisheitsschule begründet: mit den 12 Aposteln und den 70 Schülern. Dieser heiligen, der biblischen Geschichte gegenüber ist die profane Weisheit der Griechen und anderer Völker sekundär.

Eine vergleichbare Weise des Zugangs zu den überlieferten Thesen der Philosophie entwickelt später die Schule von Cambridge. Theophilus Gale (1628 - 1678) mit seiner "Philosophia generalis" (1676) ist einer ihrer Vertreter. Darin wird der Leitgedanke entwickelt, daß alle Philosophen aus ein und derselben Quelle geschöpft hätten, nämlich aus der Offenbarung. In erster Linie sei also unter den Philosophen Moses zu nennen, aber auch die orientalischen und griechischen Philosophen werden auf diese Quelle zurückgeführt. Die Philosophie der Hebräer erscheint als die "philosophia prima".

Abraham, Moses, Salomon und Hiob sind ihre bedeutendsten Vertreter. Unter den Griechen stehe Platon der Bibel am nächsten, und Gale greift hier einen Topos von neuem auf, der sich schon bei Philon und Clemens von Alexandrien findet: Platon sei ein indirekter Schüler des Moses und der Bibel.

Die Vergangenheit der Philosophie erscheint, so betrachtet, als etwas Veränderliches, Vielfältiges, dessen Ursprungspunkt und Endpunkt jedoch bekannt sind, man kann daher aus dieser Kenntnis der Bezugspunkte auch jede einzelne Entwicklung als Abweg oder als Annäherung erkennen und beurteilen. Die methodologische Formulierung dieses Ansatzes findet sich in der "Arcaeologia philosophica" (1692) des Thomas Burnet (1632 - 1715): Ziel ist es, präzise darzustellen, was jede Schule gedacht hat, in welchem Bereich des Denkens sie zur Errichtung des Gebäudes der Wissenschaft beigetragen und bis zu welchem Grad sie diese gefördert hat. Hingegen hält Burnet die Lebensumstände der Philosophen für sekundär. Die Lehren der Philosophen sind durchwegs hinsichtlich ihrer Nähe oder Ferne zur Offenbarung zu beurteilen. Burnet entwirft die Durchführung seines Programms an der Fragestellung, welche Auffassungen über den Ursprung und das Wesen der Welt entwickelt worden sind. Dabei wird immer wieder festgestellt, wie die Weitergabe der Offenbarung zu einer Annäherung an die Wahrheit geführt habe, wie jedoch insgesamt eher ein Abstieg als ein Fortschritt im Maße der Abweichung von der Offenbarung gegeben sei. Religiöse wie philosophische wie wissenschaftliche Auffassungen haben für Burnet ihre gemeinsamen Quellen in der Offenbarung. Um den wahren Sinn der oft kryptischen, hinter Mythen und Allegorien verborgenen Aussagen wiederzufinden, ist die Kenntnis der Wahrheit notwendig, also jener Instanz, die in diesen Äußerungen nur auf verschiedenartige Weise, unter verschiedenen Namen und oft in entstellter Gestalt zum Ausdruck komme.

Das Ziel der Schule von Cambridge bestand also nicht darin, eine philologisch möglichst exakte Rekonstruktion der philosophischen Lehren zu liefern, sondern darin, die wirkliche Aussage dieser Lehren - hinter all den unterschiedlichen Terminologien - wiederzufinden. Dabei kommt es zu einer bedeutsamen Aufsplitterung: zwar sind die Griechen den Barbaren in den Wissenschaften überlegen, dies trifft nach Auffassung dieser Autoren jedoch nicht für die Philosophie zu. Der Verlauf der Denkgeschichte stellt sich also hier nicht mehr als ein einheitliches Ganzes dar, sondern splittert sich auf in die Geschichte mehrerer Disziplinen.


Polyhistoren - Daniel Georg Morhof

Die zuletzt genannte Auffassung prägt dann auch schon rein äußerlich die Werke derjenigen Autoren, die als 'Polyhistoren' in die Geistesgeschichte Eingang gefunden haben. Der Polyhistor stellt jede Disziplin, die er unterscheidet, gesondert dar. Sein Werk wird dadurch zu einem Kompendium einzelner Disziplingeschichten, und die Philosophie ist nur mehr eine unter diesen.

In der Polyhistorie ist das Ideal der Umfassendheit vor allem wirksam geworden: alles, was geschrieben ist, findet ihr Interesse, ihr Gegenstand ist die res literaria als solche. Der Polyhistor bibliographiert und rezensiert, und was er veröffentlicht, ist eine möglichst umfassende kommentierte Bibliographie. Solche Bücher, nach Disziplinen geordnete Werkverzeichnisse, erscheinen schon ab der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der bedeutendste Polyhistor des 17. Jahrhunderts, Daniel Georg Morhof (1639 - 1691) schafft in seinem "Polyhistor literarius, philosophicus et practicus" die Voraussetzung für die Weltgeschichten der Philosophie, die im 18. Jahrhundert entstehen. Er beschränkt sich nicht mehr auf die Antike, er verläßt die narrative Form der bisherigen Darstellungen, er arbeitet die gesamte Sekundärliteratur auf und er bietet Ordnungsschemata für die Behandlung der verschiedenen Disziplinen. Morhof weiß, daß er die vertrauten Ufer verlassen hat: "Oceanum enim ingressus sum, in quo portum invenire difficile est."

Die Ordnungsidee, die es dem Polyhistor ermöglichen soll, sich im unendlichen Stoff zu orientieren, ist die Zuweisung eines bestimmten Erkenntnisbereiches zu jeder Disziplin. Zwar gibt es für Morhof im Grunde nur eine einzige Wissenschaft, aber diese erwirbt man doch nur, wenn man allen einzelnen Erkenntnisbemühungen nachgeht: in ihren gegenwärtigen und in ihren früheren Gestalten. Hierbei wird jeder Umstand wichtig; man muß die literarischen Produkte einer Disziplin, ihre Textausgaben, Zeitschriften, gelehrten Gesellschaften usw. kennen. Eine derartige Geschichte der Wissenschaften, sagt Morhof, gibt es noch nicht. Bisher habe man sich nur auf die Interpretation von (philosophischen) Texten beschränkt, und dies zumeist mit Einschränkung auf die Antike. Als Polyhistor ist er dagegen ganz offen: wo immer er ein Zeichen von philosophischer oder sonst wissenschaftlicher Tätigkeit wahrnimmt, verzeichnet er es.

Allerdings gibt es eine bedeutsame Einschränkung: was der Polyhistor in seine Geschichtsdarstellung aufnimmt, muß zumindest geschrieben sein. Geschichtsschreibung als Sammeln möglichst aller schriftlichen Spuren der geistigen Produktion der Vergangenheit ist Polyhistorie. In diesem Zusammenhang entwickelt sich die Frage nach dem Ursprung der Philosophie in einer eigenartigen Weise: es schien keinen Zweifel daran zu geben, daß die Entstehung der Philosophie die Entstehung der Schrift vorausgesetzt habe. Die Frage war nun, ob Moses - von dem ja nach Ansicht der Zeit die ersten Bücher stammten - der Entdecker der Schrift und damit vielleicht auch der erste Philosoph gewesen sei, oder ob Adam dafür gelten sollte, für den immerhin sprach, daß er die Sprache erfunden habe (nach dem Bericht der Genesis gibt Adam den Dingen ihre Namen. Es schien wahrscheinlich, daß der "primus auctor sermoni" auch der "primus inventor literarum" gewesen sei. Dieser Streit um Moses oder Adam braucht uns hier nur insofern zu interessieren, als dabei auffällt, daß ein Vorbegriff von Geschichtswissenschaft ( Sammlung möglichst aller schriftlichen Spuren) zurückwirken kann auf den Begriff des Gegenstandes dieser Geschichtswissenschaft.

Zwei Gesichtspunkte außer der Disziplinentrennung formuliert Morhof, die ihm eine Orientierung im Meer des Geschriebenen erlauben sollen, und die zu seiner Zeit neu sind: die Interpretation aus dem Kontext und die Arbeitsteilung.

Nicht einfach wörtliche, philologisch-kritische Wiedergabe wird nach Morhof den alten Texten gerecht, sondern dazu braucht es Angaben darüber, in welchem Zusammenhang ein Autor was gesagt hat. Morhof fordert daher, nicht einfach alles zusammenzuordnen, was dem Anschein nach ähnlich ist, nicht einen Autor nach isoliert herausgegriffenen Sätzen zu beurteilen, sondern eher die Sätze nach dem Autor. Also, wie sich ein heutiger Theoretiker der Hermeneutik ausdrückt, die Verhältnisse von Textteilen und Textganzem, vom Autor als einer Gesamtheit von Sinngehalten und einem Text als einem dieser Sinngehalte zu berücksichtigen. Die Methode, die Morhof hierzu vorschlägt, besteht darin, daß bei einem Zitat jeweils auch die anderen Stellen angegeben werden, an denen der Autor vom selben Gegenstand spricht; ein Text wird so durch andere Texte erläutert. Nicht mehr die buchstabengetreue Wiedergabe allein steht hiermit zur Aufgabe, sondern die Klärung des Sinns einer Aussage aus deren Geist und mittels ihres Kontexts.

Das zweite ist die Arbeitsteilung: jeder einzelne Gelehrte stützt sich auf die Arbeiten der anderen, und diese gemeinsame Anstrengung ist dann auch imstande, einen Ozean von Gegenständen durch beharrlichen Vergleich übersichtlich zu machen.


Literaturhinweise

Braun, Lucien: (1990). Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft
Malusa, Luciano: (1975) Le origini moderne della storia della filosofia. in: Giacon, C.: (Hg.) Storiografia e filosofia del linguaggio. Padova: S. 3-41
Santinello, Giovanni (Hg.): (1981) Dalle origini rinascimentali alla "historia philosophica". Brescia: La Scuola
Wimmer, Franz M.: (1990) Interkulturelle Philosophie - Theorie und Geschichte. Wien: Passagen