Einleitung
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Geschichte der Philosophiehistorie(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)Philosophie in Entwicklung - HegelEs geht vernünftig zu. Mit diesem Glauben an den Weltgeist müssen wir an die Geschichte und insbesondere an die Geschichte der Philosophie gehen. (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)Sowenig wie im Falle Kants ist es für Hegel in unserem Zusammenhang möglich oder auch nur sinnvoll, sein Denken im Ganzen vorstellen zu wollen, dieser Anspruch wird also hier keineswegs erhoben. Ich stelle Hegel lediglich als einen Denker vor, der sich mit der Philosophiehistorie befaßt hat, mit deren Gegenstand, deren Funktionen und deren möglichen und angemessenen Darstellungsweisen. Ich gehe, anders gesagt, davon aus, daß ein Leser seiner "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" dies und sonst nichts von seinen Schriften bzw. hinterlassenen Vorlesungen zur Kenntnis nimmt, um zu erfahren, was er darüber denkt. Insbesondere scheint es nicht sinnvoll, die thematisch verwandten "Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte" heranzuziehen, denn die Thesen der erstgenannten Vorlesungen können und müssen für sich selbst stehen. Wie bei allen Autoren ist auch bei Hegel zu beachten, in welcher Zeit, mit welchem Wissensstand und mit welchen traditionellen Voraussetzungen er schreibt. Insbesondere sind die Daten von Interesse, die ihm zur Verfügung stehen, wenn er Verallgemeinerungen formuliert, in unserem Zusammenhang also auch seine Kenntnisse über europäische und nichteuropäische philosophische Traditionen. Es verdient Erwähnung, daß der Beginn der Entzifferung ägyptischer Inschriften und Codices erst in der letzten Lebenszeit Hegels einsetzt; daß die Kenntnis der indischen Denktraditionen und Religionen noch sehr mangelhaft und irreführend ist[1] daß die Nachrichten über Afrika nur wenige Teile dieses Kontinents betreffen und keineswegs auf der Höhe der späteren Ethnologie stehen; daß schließlich das China-Bild der zeitgenössischen Literatur gleichfalls schematisch und einseitig ist, von mangelnden Kenntnissen über Japan und das präkolumbianische Amerika zu schweigen. Aber auch die Kenntnis der europäischen Denkgeschichte ist durch die Arbeiten von Historikern seither wesentlich erweitert worden. Wir werden daher gut daran tun, Hegels Urteile und Thesen kritisch zu lesen, obwohl oder gerade weil einige seiner markantesten Urteile bzw. Fehlurteile zu wohletablierten Stereotypen von späteren Philosophen bis in unsere Zeit geworden sind, die sich nicht immer auch nur der Mühe unterziehen, die Hegel angewandt hat, um seine Urteile zu begründen. |
In der Einleitung zu seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie formuliert Hegel ein Dilemma:
Der Gedanke, der uns bei einer Geschichte der Philosophie zunächst entgegenkommen kann, ist, daß sogleich dieser Gegenstand selbst einen inneren Widerstreit enthalte. Denn die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unveränderlich, ewig, an und für sich ist. Ihr Ziel ist die Wahrheit. Die Geschichte aber erzählt solches, was zu einer Zeit gewesen, zu einer anderen aber verschwunden und durch anderes verdrängt worden ist. Gehen wir davon aus, daß die Wahrheit ewig ist: so fällt sie nicht in die Sphäre des Vorübergehenden und hat keine Geschichte. Wenn sie aber eine Geschichte hat, und indem die Geschichte dies ist, uns nur eine Reihe vergangener Gestalten der Erkenntnis darzustellen, so ist in ihr die Wahrheit nicht zu finden; denn die Wahrheit ist nicht ein Vergangenes. (15)[2]"Die Wahrheit" ist hier das entscheidende Wort. Es wird uns in Hegels Vorlesung immer wieder begegnen und stets wird "die Wahrheit" wie eine Person, zumindest wie ein Individuum auftreten. Sie ist es, vor der ein anderes Individuum "erbleicht": die "Meinung"(20). "Die Wahrheit" steht außerhalb und über der Zeit, sie ist "ewig". Sie ist das Ziel der Philosophie (15), die die "Lehre der absoluten Wahrheit"(16) ist, doch nicht in dem Sinn, wie in der Religion, der "eine von Anfang an festbestimmte Wahrheit als Inhalt zugestanden" (17) werde. Und: "die Wahrheit" ist eine. (24) Wer diese "Wahrheit" eigentlich hat, ist ebenfalls etwas wie eine Person: der "Geist". Auch diesen kennt Hegel sehr genau, denn er kennt sein Ziel:
Dies Beisichsein des Geistes, dies Zusichselbstkommen desselben kann als sein höchstes, absolutes Ziel angesprochen werden. Nur dies will er und nichts anderes. (29)Hegel kennt auch den Weg zu diesem Ziel: die "Entwickelung" zum "Konkreten". Was sich da unterwegs auf das "Konkrete" hin entwickelt, ist schlechterdings das Universum. Nichts in der Welt ist von diesem Prozeß ausgenommen, alles entsteht, vergeht, geschieht, handelt, lebt, denkt als Teil dieses Entwicklungsprozesses:
Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht - ewig geschieht -, das Leben Gottes und alles, was zeitlich getan wird, strebt nur darnach hin, daß der Geist sich erkenne, sich sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. (29)[3]Es ist also nur ein Teilprozeß des Ganzen, den Hegel beschreiben will, wenn er die Geschichte der Philosophie beschreibt. Aber es ist ein wichtiger Teilprozeß - wichtiger jedenfalls, als es der Prozeß oder der Verlauf des Philosophierens wäre. Damit ist auf den Gegenstand hingewiesen, den er ins Auge faßt: es ist nicht die "äußerliche Geschichte" der Philosophie, also die Geschichte philosophierender Menschen, deren Lebens- oder Denkbedingungen, deren Wirken oder Scheitern - alle derartigen Fragen sind für Hegel lediglich "interessant", sie gehen aber nicht auf den Kern der Sache
und erst wennwir von der eigentümlichen Natur der philosophischen Erkenntnis mehr werden berührt haben, können wir auf die Seiten mehr eingehen, die sich mehr auf die äußere Existenz und äußere Geschichte der Philosophie beziehen. (17)Diese "eigentümliche Natur" liegt aber nun genau in der "Entwicklung" des "Geistes" zum "Konkreten". Was das bedeutet, wie es geschieht, was seine Stationen und Ergebnisse sind, haben wir zu fragen.
Wir können dies an den zentralen Begriffen sehen, unter denen
Hegel die Geschichte des philosophischen Denkens zu erfassen glaubt: Wahrheit,
Geist, Entwicklung.[4]
"Die" Wahrheit "ist" so und so: sie ist "ewig" (15), sie ist das
"Ziel" der Philosophie (15), sie ist der Inhalt des Christentums (17) und
steht der subjektiven Meinung gegenüber (20). Sie ist ein Individuum,
"ist Eine" (21) und steht im Gegensatz zur eigenen Einsicht (104).
Es ist klar, daß diese "Wahrheit" nicht so etwas ist wie eine
Eigenschaft von Aussagen, daß es sich um etwas Substanzartiges handelt,
etwas allerdings, das im Entstehen begriffen ist. Es handelt sich jedoch
dabei durchaus nicht um ein Fortschreiten in der Erkenntnis wahrer Sätze,
um eine Annäherung an Wahrheit, wie dies von Popper und dem kritischen
Rationalismus begriffen wird[5],
sondern um einen "Strudel der Bewegung", in dem der Dialektiker der "Wahrheit"
zutreibt.[6]
Einer der Zeitgenossen Hegels, den mit ihm eine intime Gegnerschaft
verband, war Jacob Friedrich Fries. Er fragt sich: "hielt denn der Weltgeist
sich im Ernst einmal mit Thales für Wasser, mit Herakleitos für
Feuer ... zugleich auch mit Epikuros für den, der gar nicht ist? Das
ist sonderbar! Der Weltgeist muß entweder der Alte überall und
nirgends, oder sonst ein drolliger spaßhafter Gesell sein."[7]
In der Tat ist es unverständlich, wenn nicht aus einem christlich-theologischen
Geschichtsbild, wie Hegel von dem, was er "objektiver Geist" oder auch
"Volksgeist" nennt, zur Annahme eines "Weltgeists" kommt. Seine diesbezüglichen
Ausführungen sind alles eher als überzeugend, sie klingen nach
einem Wunschdenken. Dies ist aber ein entscheidender Punkt. Vergegenwärtigen
wir uns nochmals, was dieser "Geist" sein soll, der da in der Geschichte
der Philosophie zum vollen Bewußtsein seiner selbst gelangt.
Es ist ein "allgemeiner" Geist (11), mit dem wir zu tun hätten - nicht der Geist eines Volkes[8]; sein Wesen ist Tätigkeit (12). In ihm fällt Anfang und Ende zusammen und wenn er sich entwickelt, was ausschließlich im Denken geschieht, kann dies als sein höchstes Ziel gesehen werden (29). Er kann sich wohl erinnern an seine früheren Zustände, sonst hätte Hegels Vorlesung keinen Sinn, aber er kann sie nicht mehr ernstnehmen (49). Er äußert sich auf verschiedenen Gebieten, in der Kunst, der Wissenschaft, der Religion[9], auch der Philosophie - aber er ist immer ein und derselbe (53); er tritt immer erst dann auf, wenn "der Geist eines Volkes sich aus der gleichgültigen Dumpfheit des ersten Naturlebens herausgearbeitet hat" (54), dann aber verwertet er sozusagen den Nachlaß dieses Volkes: "Der Geist flüchtet in die Räume des Gedankens, und gegen die wirkliche Welt bildet er sich ein Reich des Gedankens." (55) Ihm ist nichts Wirkliches fremd - er erkennt in allem sich selbst (77) - und man darf annehmen, daß das, was ihm fremd ist, auch nicht wirklich ist. Er ist selbstzeugend: "Der Geist zeugt sich selbst, und erst im Zeugnis; er ist nur, indem er sich zeugt, sich bezeugt, und sich zeigt, sich manifestiert." (73) Sein Mittel der Selbstzeugung ist die Sprache; Mythen und Symbole braucht er nicht. (86) In den Begriffen, die der "Geist" sich selbst von sich macht, liegt der Grund für alle menschlichen Verhältnisse, für die Gesetzgebung, die Religion usw. (92) Er beginnt seinen Weg "im Orient" (95), dort allerdings nur "auf substantielle, natürliche, patriarchalische Weise" (96), und setzt ihn im Okzident fort:
Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft. (96)
Entwicklung, wie Hegel sie versteht, ist ein Höherschreiten
durch Entgegensetzungen, nicht nur eine Abfolge verschiedener Stadien.
Was sich entwickelt, bleibt mit sich identisch und verändert sich
doch. Wir haben gesehen, daß die Chronologie in der Geschichte der
Philosophie von Hegel mit der Logik parallel gesetzt wird. Das hält
er jedoch in seiner Beschreibung keineswegs durch, was denn zu einem oft
wiederholten Einwand führt.[10]
Und der schon zitierte Fries stellt fest: " Man theilt ... die Rückschritte
in der Geschichte der Philosophie (wie die Geheimenräthe) in wirkliche
und nichtwirkliche, und erklärt alle in der Geschichte wirklich vorkommenden
für nichtwirkliche."[11]
Der "Geist" muß uns hier nur insofern interessieren, als Hegel
vom "Weltgeist" spricht. Die angeführten Merkmale aus der Einleitung
der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie betreffen diesen.
Wozu braucht er ihn? Was spricht für eine solche Annahme, und was
spricht dagegen? Dies sind keine ganz müßigen oder nur historischen
Fragen, wenn wir sehen, wie in der Rede von der Neuen Weltordnung heute
immer noch ähnliche, teilweise auch auf Hegel aufbauende Vorstellungen
auftauchen. Die Frage, auf die Hegel mit seiner Idee des "Weltgeists" antwortet,
ist heute nicht weniger aktuell als jemals. Es ist schlicht die Frage,
ob die unterschiedlichen Entwicklungen, welche Menschen in der Vergangenheit
durchlaufen haben, einen geheimen Sinn, eine Richtung haben, sodaß
eine künftige Einheit der Denkweisen und Weltanschauungen zu erwarten
ist - oder ob dies nicht der Fall ist, sodaß die Vielheit fortbestehen,
neue Formen von Vielheit immer wieder entstehen werden. Die Annahme eines
"Weltgeists" wäre ganz unverständlich bei der zweiten Möglichkeit,
sie macht nur im ersten Fall Sinn. Es ist nun durchaus nicht einzusehen,
warum Hegel in dieser Frage das endgültige Urteil haben sollte, wenn
er nicht tatsächlich am Ende aller Geschichte steht und über
alles Bisherige endgültig Bescheid weiß. Verdächtig bleibt
jedenfalls daß Hegel den "Weltgeist" aufgrund der "Vernünftigkeit
der Geschichte" annimmt und die "Vernunft in der Geschichte" mit dem "Weltgeist"
erklärt.
"Die Wahrheit", von der Hegel in seiner Vorlesung spricht, ist etwas wie ein Individuum. Hier zeigt sich der Theologe, nicht der Philosoph. Man kann freilich "die Wahrheit" ebenso substantivieren und substantialisieren wie viele andere Konzepte auch, das Deutsche legt diese Möglichkeit nahe. Wenn eine solche Hypostasierung aber geschieht, so ist doch immer noch nach den Argumenten dafür zu fragen. Es ist zwar keineswegs so, daß der Ausdruck "wahr" in der Philosophie immer in derselben Bedeutung verwendet würde, doch betreffen die Unterschiede hinsichtlich des Begriffsinhalts wie auch hinsichtlich des Kriteriums für das Zutreffen des Begriffs stets irgendein Verhältnis (zwischen Geglaubtem oder Gewußtem und Wirklichem etc.). Eine Hypostasierung, wie Hegel sie vornimmt, kann sich daher gewiß nicht auf allgemeinen Sprachgebrauch stützen - außer auf einen christlich-religiösen. Im Neuen Testament findet sich zwar der Satz: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", doch zeigt schon die Zusammenstellung dieser drei Ausdrücke, daß hier nur metaphorisch gesprochen sein kann: "der Weg" kann wohl kaum einen bestimmten "Weg" meinen, und ebensowenig kann irgendein Lebewesen anders als metaphorisch von sich sagen, es sei "das Leben". Hegel will nicht metaphorisch über "die Wahrheit" sprechen, aber er tut es.
Die Idee der "Entwicklung" der Philosophie zeigt bei Hegel eine ähnliche
Zirkularität, wie dies beim Begriff des "Geistes" bereits festgestellt
wurde. Der Zirkel ist vitiös: es soll sich aus dem Denkgeschehen selbst
zeigen, daß darin die Entwicklung eines Identischen auf dem Weg über
Gegensätze stattgefunden hat, aber dies muß andererseits vorneweg
angenommen werden, um zu wissen, was denn eigentlich geschehen ist.
Der Pfiff einer solchen Weisheit ist so bald erlernt, als es leicht ist, ihn auszuüben; seine Wiederholung wird, wenn er bekannt ist, so unerträglich, als die Wiederholung einer eingesehenen Taschenspielerkunst. (Hegel über Schelling, Phän. d. Geistes, Vorrede)Hegels Zugang zur Geschichte der Philosophie zu kritisieren, fällt einerseits so leicht, daß fraglich scheint, ob an dieses Unternehmen überhaupt noch erinnert werden, ob es nicht vielmehr vergessen werden sollte. Der abfällige Ton, in dem er über die unphilosophischen, einsichtslosen Historiker der Philosophie[12] spricht, die sich der Mühe des Zusammenstellens und Interpretierens fremder Denkweisen und -inhalte unterzogen haben, läßt sich schwerlich überbieten. In dieser Gefahr sieht er selbst sich freilich nicht, denn nichts, worüber er spricht, ist ihm ein Fremdes, alles hat "der Geist", will sagen: Hegels Geist, sich angeeignet.[13] Man muß sich nur in die Monomanie dieses Zugangs hineinbegeben, dann werden die Ergebnisse vorhersehbar. Es ist aus der Hegel`schen Vorlesung über die Geschichte des philosophischen Denkens der Menschheit daher wenig zu lernen; sehr viel allerdings ist zu lernen über das Selbstverständnis des Autors und eines großen Teils der okzidentalen Philosophen. Wir werden darum doch auch wieder nicht einfach Hegels Worte über Afrika in der Vorlesung zur Philosophie der Geschichte abwandeln und sagen dürfen: "Wir verlassen hiemit Hegel, um seiner künftig keine Erwähnung mehr zu tun."
Es ist nicht so einfach, und auch nicht überflüssig, dieses Unternehmen zu kritisieren. Die wesentlichen Voraussetzungen dürften klargeworden sein: es handelt sich um die ausgebreitete Beschreibung einer Vision von Identität. Es handelt sich nicht um die Beschreibung oder die gedankliche Durchdringung der Vielheit menschlicher Denkformen. Aus diesem Grund ist Hegels Darstellung der Philosophiegeschichte abzulehnen: nicht, weil er dies und jenes nicht gewußt, weil er in diesem oder jenem Detail geirrt hat - was allerdings auch wiegt -, sondern weil er sich überhaupt nicht der Möglichkeit des Anderen aussetzen wollte; und weil dies eine Haltung ist, die nur mit Mitteln des Imperialismus aufrechtzuerhalten ist. Es handelt sich um einen Kraftakt, der ins Leere geht, wenn ringsherum Neues und Anderes entsteht. Die leidige Frage etwa, die sich aus Hegels Überlegungen zuweilen ergeben hat, ob denn nun alles zu Ende und nichts wirklich Neues mehr zu erwarten sei, ist lediglich konfus: hätte Hegel dergleichen gedacht, so sind diejenigen zu bedauern, die meinen, es darum auch schon ernstnehmen zu sollen. Es geht aber nicht nur um die Menschheit nach Hegel, es geht auch um diejenige vor ihm; und es geht um die Einschätzung Hegels als eines Historikers der Philosophie. Dazu einige Punkte, lediglich zur Klarstellung.
a) Es gibt Wissensmängel bei Hegel:
Hegel weiß relativ wenig über die Vorgeschichte. Das ist ihm nicht anzukreiden - noch Virchow hat den Schädel von Neanderthal völlig irrig datiert. Die Entwicklungsgeschichte der Menschen, die archaische Kunst, die Strukturen menschlicher Sprache sind heute weit genauer bekannt, als dies für irgendeinen Zeitgenossen Hegels der Fall war. Dies ist nicht nebensächlich, wenn jemand beansprucht, den Weg "des Geistes" zu beschreiben.
Hegel weiß wenig über die Denktraditionen Asiens, die er so eindeutig "abscheidet". Dies ist jedoch nicht einfach ein Wissensmangel, sondern bedingt einen Mangel an Urteilsfähigkeit.[14] Es ist ein Mangel, der durch Interesselosigkeit bedingt ist und seinerseits Interesselosigkeit befördert hat.
Hegel weiß so gut wie nichts über afrikanische und amerikanische Denktraditionen, jedenfalls schweigt er darüber. In dieser Hinsicht scheint er sich voll und ganz an den von ihm sonst so harsch kritisierten Brucker gehalten zu haben, der 1756 befand, es sei in diesen Weltgegenden nicht nur keine Spur von Philosophie, sondern auch kaum der Gebrauch der Vernunft zu finden.[15]Eine solche Zurückhaltung der Neugierde auf die Tiefe von Hegels Begriffen zurückführen zu wollen, wäre eine petitio principii.
b) Behauptetes, doch fragliches Wissen Hegels:
Was Hegel allerdings weiß oder zu wissen glaubt, ist erstens, daß das Christentum die Religion schlechthin ist.[16]
Ferner weiß er, was "der Geist" will, was er tut, wohin er sich entwickelt. Dieses "Wissen" ist (denn eine "Meinung" darüber hat er nach eigenem Bekunden nicht) die notwendige und auch hinreichende Voraussetzung dafür, über Geschichte der Philosophie sinnvoll zu sprechen. Die Voraussetzung ist bei ihm erfüllt - so meint er jedenfalls.
Auch weiß Hegel, welche der Ausdrucksformen des Geistes unbeholfen sind: der Mythus und die Mathematik. Beides sind "Symbole"; der Geist braucht sie nicht wirklich, denn er hat etwas Besseres: die "Sprache".[17] Kein Wort verliert Hegel darüber, daß es sich immer, auch hier, um eine Sprache mit ihren Besonderheiten handelt, niemals um die Sprache. Es stünde einem Philosophen besser an, hier wie auch sonst (etwa im Fall "der" Geschichte, "der" Menschheit usf.) den Singular zu problematisieren oder in aller Deutlichkeit beispielsweise zu sagen, "der Geist" habe "die deutsche Sprache" - wenn genau das doch gemeint ist.
Hegel schreibt suggestiv; seine sprachlichen Bilder sind häufig
von großer Eindringlichkeit. Das bedeutet weder, daß sie klar
sind, noch auch, daß sie richtig sind. Als Leser sollte man daher
bei jedem dieser Bilder fragen, wie denn eigentlich belegt ist, was in
dem Bild vermittelt werden soll. Die verwendeten Ausdrücke sind meist
nur scheinbar einfach, ihre Zusammenfügung überrascht oft, was
den Eindruck eines tieferen Sinns macht. Es empfiehlt sich jedoch, in allen
derartigen Fällen zu fragen, wie die Sache einfacher gesagt werden
kann. Auch wenn Hegels abfälliger Tonfall denjenigen gegenüber,
die nicht vorgeben, die Einsicht in die große Einheit zu haben, dies
schwer macht, sollte man ihn so lesen, als wüßte man nicht,
wie er, genau über die Wege "des Geistes" Bescheid.
[1]Vgl. Halbfaß
[2]Zitiert wird in diesem Abschnitt mit einfachen Seitenzahlen in Klammern, sofern es sich um Texte handelt aus Hegel 1982
[3]Das Gegebensein dieses "Geistes" wird auch von Fichte als evident prätendiert. In der "Bestimmung des Menschen" (1800) lesen wir: "Das Denken ist nun einmal, es ist schlechthin, sowie die Bildungskraft der Natur nun einmal ist, und schlechthin ist. ... Diese ursprüngliche Denkkrafte des Universums schreitet fort, und enwickelt sich in allen möglichen Bestimmungen, deren sie fähig ist, so wie die übrigen ursprünglichen Naturkräfte fortschreiten und alle möglichen Gestalten annehmen." (in: Werke, Darmstadt 1962, Bd. III, S. 276 xxx???welche Ausgabe???)
[4]Auch für eine ablehnende Kritik an der hegel`schen Philosophiehistorie gilt, was Fain (1970, 221) über seine Geschichtsphilosophie sagt: "If we reject Hegel`s philosophy of history, we should do so for the right reason ... The only good reason for rejection Hegel`s philosophy of history is that history as it happened is not intelligible on Hegel`s terms."
[5]Etwa in dem Sinn, wie Albert schreibt: "Wir haben heute allen Anlaß, an die Möglichkeit zu denken, daß keine einzige der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Theorien im strengen Sinne des Wortes wahr, d.h. ohne jede falsche Konsequenz, ist und daß dasselbe auch für spätere Systeme gilt." (Albert 1972, 8f)
[6]Heiss 1953, 133: "Der erste Grundsatz der formalen Logik verlangt, daß die Aussage mit sich identisch und in sich stabil ist. Dies ist für den Dialektiker nicht notwendig und gar nicht möglich, weil überhaupt nichts diese Stabilität der, wie Hegel sagt, ,bewegungslosen Wesenheit` hat. Hier zeigt sich dann, daß für das dialektische Denken das Erkennen ganz offenbar nicht den Charakter hat, der ihm im wissenschaftlichen Denken zugeschrieben wird. Solches Denken bindet und bannt die Wirklichkeit nicht, es kennt nicht die fixierte und fixierbare Wahrheit, sondern zieht auch diese in den Strudel der Bewegung." - Was ein solches Denken dann allerdings für Ergebnisse haben soll, ist kaum vorstellbar. Die Beschreibung ist wohl auch nicht zutreffend: Hegel "bindet und bannt die Wirklichkeit" in vielen seiner Aussagen durchaus.
[7]Fries 1837, XVII
[8]Der "Volksgeist" ist zwar ganz ebenso substantialistisch beschrieben, doch kann man sich immerhin darunter noch etwas Sinnvolles vorstellen insofern, als jede Erscheinungsform, jede Handlung aus Vernunft in eine Tradition, eine Sprache etc. eingebunden ist, die nicht einfach vom Subjekt ausgetauscht oder überwunden werden kann. Niemand hat als Subjekt die Äußerungsmöglichkeiten seines Denkens gänzlich selbst erfunden
[9]Doch natürlich nicht in derselben Weise: "Ob nun gleich in der wahrhaften Religion das unendliche Denken, der absolute Geist, sich offenbar gemacht hat und offenbar macht: so ist das Gefäß, in welchem es sich kundtut, das Herz, das vorstellende Bewußtsein und der Verstand des Endlichen." (70)
[10]Schwegler 1861, 3f: "... hätte Hegel die jonische Philosophie ganz wegwerfen sollen, denn die Materie ist keine logische Kategorie; ferner hätte er den Pythagoreern ihre Stelle nach den Eleaten und Atomisten anweisen sollen, denn die Kategorieen der Quantität folgen denen der Qualität nach u.s.f., kurz er hätte die Chronologie ganz über den Haufen werfen müssen."
[11]Fries 1837, XVII
[12]Zu Tiedemanns Werk sagt Hegel: "Das Ganze ist ein trauriges Beispiel, wie ein gelehrter Professor sich sein ganzes Leben mit dem Studium der spekulativen Philosophie beschäftigen kann und doch gar keine Ahnung von Spekulation hat." (S. 108)
[13]"Man sagt: Die Philosophie erkennt das Wesen. Der Hauptpunkt ist hier dann dieser, daß das Wesen nicht ein demÄußerliches ist, dessen Wesen es ist. Das Wesen meines Geistes ist in meinem Geiste selbst, nicht draußen." (S. 75)
[14]Nirgendwo kommt Hegel auf eine Idee, wie Klaus Held sie kürzlich ausgedrückt hat: "...erstens können wir nicht ausschließen, daß es Grundstimmungen anderer Kulturen gibt, die ebenfalls eine ... universale Ontologie ermöglichen. Dies scheint beispielsweise auf ... (den) Buddhismus zuzutreffen. Zweitens gibt es in weiten Bereichen dieser Erde Kulturen, die ... sich entschieden auf ein Leben gemäß den beiden Daseinsprogrammen eingelassen haben, die ursprünglich in Griechenland auf den Weg gebracht wurden: Wissenschaft und Demokratie." (Klaus Held: Europa und die interkulturelle Verständigung. Ein Entwurf im Anschluß an Heideggers Phänomenologie der Grundstimmungen, in: Hans-Helmuth Gander (Hg.): Europa und die Philosophie. Frankfurt/M.: Klostermann, 1993, S. 102.)
[15]Brucker 1756, S. 884: "In Africa enim et America tam detestabilis ubique superstitio regnat, ut non modo philosophiam omnem, sed et usum rationis eiurasse videantur."
[16]In der Vorlesung nennt er sie "die Wahrheit in einer viel allgemeineren Gestalt, als sie in der philosophischen Gestalt ist", op. cit., S. 16; der Frage nach einer Hierarchie der Religionen hat Hegel große Aufmerksamkeit gewidmet, wie seine "Religionsphilosophie" zeigt. Darin ist er ein Wegbereiter für die seitherige Religionswissenschaft geworden. Es ist hier nicht der Ort zu einer Auseinandersetzung mit seiner diesbezüglichen Auffassung, aber Skepsis gegenüber derartiger Gewißheit ist in jedem Fall angebracht. Es wäre sonst wirklich nicht leicht zu erklären, warum es tief religiöse Menschen gibt, die das Christentum nicht annehmen, wenn sie es kennenlernen.
[17]"So kann man sagen: die Ewigkeit sei ein Kreis ... es ist ein Bild. Der Geist bedarf aber solches Symbols nicht; er hat die Sprache." (S. 86)