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Geschichte der Philosophiehistorie

(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)

Fortschrittsdenken versus Apriorismus in der Philosophiehistorie 

Auf einer Höhe, die über alles wegsehen, alles überschauen lässt, muss der künftige Geschichtsschreiber der Philosophie stehen - denn bis jetzt ist er noch nicht existierend, - er muß, wie der Landschaftsmahler ausserhalb der Landschaft steht, die er aufnimmt, ausserhalb dem Gebiete philosophischer Systeme stehen, dass alle Linien, alle Lichtstrahlen auf ihn zulaufen, und dass er so alles ausmessen, und alles bis auf die äussersten Grenzen verfolgen kann. (Grohmann 1797, 99)


Drei Antworten auf die Frage, was die Geschichte des philosophischen Denkens denn eigentlich ausmache, sind in der deutschen Tradition des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gegeben worden, und alle stehen im Kontrast zur pragmatischen Denkweise der Aufklärung: Kants Transzendentalphilosophie, die romantische Idee des Genies, und die These von einer Selbstentwicklung bei Hegel und Marx. Die erste führt zu einem Abkoppeln des Empirischen vom Spekulativen in der Weise, daß die historische Forschung nicht nur gebunden ist an die Idee, es müsse hinter den Fakten der Geschichte ein erkennbares Grundmuster geben, sondern mehr noch - diese Fakten sind nichts weiter als die Bestätigung dessen, was aus einer anderen Quelle gewußt wird: aus der Vernunft, an der das transzendentale Subjekt teilhat. Die romantische Antwort auf die Frage nach der Philosophiegeschichte stellt das empirische Subjekt, desssen Gemüt oder Gefühl an die entscheidende Stelle: die Geschichte, auch die Philosophiegeschichte, wird zum "Gedicht". Der einzelne wird zum Ganzen, aber nicht weil er am Ganzen des Denkens teilhat, sondern weil er in sich allein alles, was möglich ist, verwirklicht. Hegels grandioser Entwurf, dem Marx in der Form nachfolgt, vereint diese beiden Gedanken: der "Geist" entwickelt sich mit Hilfe und durch das Tun und Denken der einzelnen. Mit diesen drei Antworten sind für lange Zeit die Denkmuster vorgezeichnet, innerhalb derer die europäische Philosophie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. In diesen drei Stellungnahmen ist auch das Eigene, das Okzidentale als Allgemeines definiert und dem Anderen gegenübergestellt worden. In der romantischen Sicht auf die Geschichte der Philosophie herrscht ein schwärmerischer Orientalismus vor, der den Blick auf das Fremde eher verstellt als ermöglicht. Die europäische Philosophie in dieser Phase ihrer Entwicklung führt ein Selbstgespräch.

Philosophie im Fortschritt - Dietrich Tiedemann

Das philosophiehistorische Werk Tiedemanns steht zur Gänze unter dem Einfluß der Fortschrittsthese. Er veröffentlicht seinen Geist der speculativen Philosophie in sechs Bänden in den Jahren 1791-96, also zu einer Zeit, in der sich die Philosophie Kants auf den Lehrstühlen der meisten deutschen Universitäten fest etabliert zu haben scheint. Tiedemann widersetzt sich dem Anspruch der Kantianer, die definitive Vorgeschichte der einzig wahren Philosophie könne nunmehr geschrieben werden, indem er sich auf die Wirkungsgeschichte beruft, auf ein Urteil also, das noch ausstehe:
Ein völlig wahres Philosophie-System haben wir vielleicht, ein als solches anerkanntes, ganz gewiß nicht; also konnte in Beurtheilung der Lehren und Systeme davon die Rede nicht seyn, welche unter ihnen der Wahrheit am nächsten kommen, oder sie erreichen. Auch konnten nach diesem Maasstabe die Verdienste der Philosophen nicht geschätzt werden.[1]
Wenn aber Tiedemann keine absolute Instanz - wie es Bruckers vorurteilsfreie Vernunft ebenso sein sollte wie die transzendentale Erkenntnis der Kantianer -in einem vernunft- oder naturgemäßen System der Philosophie anerkennt: wie will er die verschiedenen Philosophien miteinander vergleichen und in ein Verhältnis zueinander setzen? Er will erklärtermaßen sogar darauf verzichten, den Umfang des Begriffes Philosophie abzugrenzen; er weiß, daß er unter diesen Voraussetzungen allerdings keine allgemeingültige Geschichte der Philosophie mehr schreiben kann. Aber das scheint ihn als empirisch vorgehenden Historiker wenig zu beunruhigen. Solange nämlich, wie er annimmt, eine definitive Form der Philosophie (die auch als solche anerkannt wäre) fehlt, solange wäre es zumindest unangemessen, sie als existent vorgeben zu wollen. Vorläufig solle man sich mit der Darstellung einer Vielzahl von Philosophien begnügen, die sich zwar allesamt dem Publikum als endgültig vorstellen, worunter sich aber keine einzige auch endgültig durchgesetzt habe - auch nicht die kantische. Tiedemann urteilt also nicht als systematischer Philosoph, sondern als empirischer Historiker, wenn er schreibt:
So lange die kritische Philosophie sich als die einzig Wahre noch nicht endgültig gemacht hat, ist es immer Anmaaßung und Meynungs-Despotismus, wenn man jedem Bürger im Reiche der Philosophie diese, als Constitution aufdringen; von jedem bey Strafe des litterarischen Prangers begehren will, von ihr Gebrauch zu machen.[2]
Worauf Tiedemann sich in seiner Auswahl vergangener Gestalten der Philosophie stützen will, ist also nicht ein systematisch definierter Begriff der Philosophie oder des Philosophischen; er stützt sich vielmehr auf einen philosophiehistorischen common sense, eine allgemeine, durch Jahrhunderte hin geübte Übereinkunft, aufgrund deren immer wieder gewisse Gedankengänge und gewisse literarische Produktionen als philosophisch klassifiziert worden sind. Das Material aus der Geistesgeschichte, das auf diese Weise abgegrenzt wird, ist in seinem Umfang und in seiner Thematik durch einen einen Konsens gestützt, der sich auf die Zustimmung vieler Menschen in unterschiedlichen Zeiten und unter verschiedenen philosophischen Traditionen berufen kann.[3] Das gemeinsame Merkmal aller dieser geistigen Unternehmungen, die als das Philosophische zusammengefaßt und beschrieben werdne, besteht darin, daß sie von dem Vermögen von Menschen Zeugnis ablegen, die Totalität ihrer Erfahrungen und Erlebnisse in Begriffen zu organisieren und in einen gedanklichen Zusammenhang zu bringen.

Was die Philosophiehistorie nun leisten soll, ist die Nacherzählung der Entfaltung dieses menschlichen Vermögens. Sie wird dabei nach Tiedemanns Sicht zeigen können, was Aufklärer wie Heumann und Brucker schon vermuteten, daß hierbei ein beständiges Fortschreiten stattgefunden habe:

Eine erfreuliche Aussicht gewährt die Geschichte der speculativen Philosophie in ihrem Umfange übersehen: daß die menschliche Vernunft, nachdem sie einmal geweckt ist, nie zurückgegangen ist, noch gänzlich stille gestanden hat; sondern durch alle Jahrhunderte in ununterbrochenem Wachsthume geblieben ist.[4]
Der mögliche Vergleichspunkt zwischen den verschiedenen Philosophien liege also in dem jeweiligen Stadium des Wachstums, das sie befördern oder zum Ausdruck bringen. Dabei sei zweierlei wichtig: erstens müssen die Unterschiede, die Neuerungen der jeweils späteren Formen der Philosophie im Vergleich zu den jeweils früheren gefunden werden, und zweitens muß festgestellt werden, inwiefern es sich bei diesen Neuerungen um ein echtes Wachstum handelt. In Bezug auf die zweite Frage nimmt Tiedemann an, daß man Vorstellungen, philosophische Ideen, zumindest darin voneinander unterscheiden und miteinander vergleichen könne, daß einige von ihnen klarer, folgenreicher und konsequenter seien als andere. Wenn diese klareren oder auch im Sinn der logischen Konsequenz korrekteren Ideen den weniger korrekten vorzuziehen sind, so hat man anscheinend damit ein gutes, inhaltlich neutrales Kriterium, das von den zugrundeliegenden metaphysischen Annahmen unabhängig sei und darum auch vom Historiker angelegt werden könne, ohne daß er selbst zu Wahrheit oder Falschheit grundsätzlich Stellung nehmen müßte.
Dem Geschichtsschreiber der Philosophie liegt ob, der Wissenschaft Wachsthum vor Augen zu legen; er hat demnach bey Jedem sorgsamst auf das zu merken, was er neues und eignes gesagt hat, und in wiefern durch ihn neue Begriffe in die Wissenschaft aufgenommen, alte, verdeutlicht und besser bestimmt; neue Beweise und Sätze sind erfunden, oder alte verbessert, und berichtigt worden. Wahrheit, Sonderbarkeit, Ungereimtheit, Gottlosigkeit der Behauptungen müssen ihm völlig gleichgültig seyn.[5]
Der Erfolg eines Philosophen, seine Wirkung bei den Zeitgenossen, sind für den Historiker nur von untergeordnetem Interesse, was die Auswahl betrifft; es mag sein, daß das Denken eines Philosophen in hohem Grad den Erwartungen seiner Zeitgenossen entspricht und daher Anklang findet. Davon aber kann die Auswahl durch den Historiker nicht abhängig sein, denn dieser geht von dem Kriterium aus, was in der Philosophie an Neuem hervorgebracht wurde. Der entscheidende Gesichtspunkt ist also die Neuheit. Um jedoch zu erkennen, ob etwas Neues auf einem bestimmten Gebiet vorliegt, muß zumindest dieses Gebiet unmißverständlich von anderen Gebieten abgegrenzt sein. Tiedemann verwendet hier als heuristische Gesichtspunkte der Einteilung im Grunde dieselben Unterteilungen wie Brucker, wenn auch in anderer Intention: er behandelt sie nicht als gleichsam natürliche Gegenstände der Vernufnt, sondern als arbeitstechnischbrauchbare Vorentwürfe. Aber auch bei ihm sind die "Haupt-Theile der Wissenschaft", nämlich "Gott, Seele und Welt", etwas, was sozusagen über dem besonderen Denken jedes einzelnen Philosophen steht, sodaß der Historiker nicht gehalten ist, "an jedes Philosophen eigne Gedanken-Verbindung sklavisch sich zu binden."[6]

Ein weiterer Gesichtspunkt, der den Historiker Tiedemann in der Darstellung leitet, ist die Annahme einer Kausalität bestimmter Art, die in der Philosophiegeschichte wirksam sei - worin er die Erklärungsintention Bruckers und der Aufklärung im allgemeinen weiterführt. Diese Kausalbeziehung bestehe vor allem zwischen der Umgebung, in der ein Philosoph lebt, und der Tradition, der er entstammt. Kindheitseindrücke werden dabei ebenso als wichtig betrachtet[7] wie der Zeitgeist. Der Zeitgeist als Erklärungsbegriff hatte bei Brucker noch keine nennenswerte Rolle gespielt, war aber von den Göttinger Historikern (vor allem Meiners und Hissmann[8]) in die geistesgeschichtliche Diskussion eingeführt worden. Allerdings denkt Tiedemann nicht, daß eine Analyse solcher Faktoren tatsächlich zu einer Ursachenerklärung in der Geschichte der Philosophie führen könne; er spricht daher lieber von "Einflüssen" und schränkt ein, er wisse,

daß noch nicht alle möglichen Erklärungen gegeben sind, und daß in der Folge ... noch manche Erklärungen werden gegeben werden. Daß meine Auslegungen die einzig richtigen sind, habe ich nirgends gesagt; vor solchem Dünkel hat mich der Himmel noch bewahrt.[9]
Tiedemann ist also nicht der Meinung, er habe bereits das - vielleicht nie gänzlich verfügbare - nötige Material zuhanden, das ihm erlauben würde, den Gang der fortschreitenden Vernunft gleichsam mechanistisch und vollständig zu erklären. Jedoch muß er, um auch nur seine Idee des Fortschreitens auszuführen, einen brauchbaren Maßstab dafür haben. Diesen findet er in einem Modell der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, das deutlich von Locke beeinflußt ist: der "wesentliche Gang der Vernunft zu wissenschaftlicher Ausbildung sei,
daß erst tägliche Erfahrungen und Beobachtungen gesammlet, und damit der Dinge Oberflächen bekannt werden; daß dann hieraus Begriffe gebildet, und diese Begriffe a priori betrachtet, verglichen und bestimmt werden; daß endlich, nach so zugerichteten Begriffen, das Geschäft der Beobachtung von neuem, nach methodischerm Plane, und nach Leitung der Begriffe vorgenommen werde.[10]
Diesen menschennatürlichen Entwicklungsgang der Vernunft will Tiedemann nun als Philosophiehistoriker deutlich machen, und mit dieser Aufgabenstellung gewinnt die Chronologie und Periodisierung eine zentrale Bedeutung.
Fortgang der Wissenschaft ist nicht anders kennbar zu machen, als durch Zeitordnung, weil nur daraus ersichtlich ist, was jeder zuerst gesagt hat, und erfunden, also erhellt, daß die Geschichte der Philosophie sich an der Philosophen Zeitfolge muß binden. Die Ordnung nach Sekten, welche nach dem Beyspiele mehrerer Alten, einige Neuen haben beobachtet, ist diesem Zweck offenbahr nicht entsprechend, vornemlich da in der Philosophie, wie in der Natur, selten etwas rein, und unvermischt wird erfunden, und der Sekte unerachtet, die meisten fremdartige Behauptungen haben beygemischt.[11]
Der Philosophen Zeitfolge (wie der Kantianer Grohmann sagen wird) ist für Tiedemann nichts Zufälliges und Kontingentes, das auch ganz anders sein könnte: in ihr ist der schon zuvor zitierte "wesentliche Gang der Vernunft zu wissenschaftlicher Ausbildung" nachzuzeichnen. Tiedemann will sich daher nicht an die Periodisierung der allgemeinen Geschichtsschreibugn binden, sondern sucht Markierungspunkte auf, die der Philosophie eigentümlich seien. Er gelangt auf diesem Wege zu einer Gliederung, die sich mit den Epochenteilungen der zu seiner Zeit noch vorwiegend religiös-christlichen Geschichtsschreibung - Erschaffung der Welt, Sintflut, Erlösung durch Christus - ebensowenig deckt wie mit der eher kulturphilosophisch oder politisch orientierten Einteilung in Antike, Mittelalter, Neuzeit.
 


Es ist unschwer zu sehen, daß der Rhythmus des Fortschreitens der Philosophie ziemlich genau mit dem zusammenfällt, was Tiedemann auch für den eigentlichen Gang der Vernunftentwicklung beim Individuum ansieht: vom Ausgehen von sinnlichen Eindrücken und von ersten Verallgemeinerungen über die Bildung und Klärung abstrakter Begriffe zur methodischen Überprüfung des Denkens an der Erfahrung. Jede Periode bekommt als Stufe ihren spezifischen Wert; auch die scheinbar abstrusesten Spekulationen können sich hinterher noch als Instrumente zur Klärung von Begriffen und Voraussetzungen als dienlich erweisen.

Es ist deutlich geworden, daß das Fortschreiten des menschlichen Denkens in der Sicht Tiedemanns sich lediglich in einem kulturellen Raum, nämlich in Europa vollzieht. Die Reife menschlicher Existenz, so kann man wohl folgern, haben andere Kulturen nicht erlangt. Wir finden hier einen Topos vor, der auch in anderer Literatur oft begegnet: die Völker Asiens, Amerikas und insbesondere Afrikas seien nicht imstande, erwachsen zu werden. Wenn Tiedemann dies auch nicht sagt, so folgt es doch aus seiner Behandlung des Stoffes. Indem er jedoch einen immanenten Maßstab an seine Wissenschaftsgeschichte der Philosophie anlegt, wäre Tiedemann in methodologischer Hinsicht durchaus imstande, Fremdes einzubeziehen. Sein Kriterium, philosophische Beiträge und Leistungen danach zu beurteilen, ob und inwiefern sie Neues darstellen, ist inhaltlich offen. Daß er dennoch sein Interesse nur auf die europäische Geschichte der Philosophie richtet, ist bedauerlich.
 

Philosophie im Durchbruch - Kantianismus

Eine sowohl von den älteren Traditionen der Aufklärung, als auch vom Fortschrittsdenken Tiedemanns ganz verschiedene Auffassung über die Möglichkeiten, die angemessene Methode und die Funktion der Philosophiehistorie liegt bei Kant und den frühen Kantianern vor.[12] Zwar erscheint auch in ihrer Sicht die zeitgenössische, durch die Vernunftkritik Kants erreichte Philosophie als ein weiterer Schritt gegenüber früheren Formen und Inhalten des Philosophierens. Aber diese früheren Stadien können rückblickend nur mehr in eingeschränkter Weise als Vorbereitungen für den Jetztzustand begriffen werden, weswegen der Ausdruck Fortschritt hierfür wohl nicht angebracht ist.[13] Jene stellten jeweils nur bestimmte, partikuläre Formen des Vernunftgebrauchs dar, wogegen die kritische Philosophie den Anspruch erhebt, die Möglichkeitsbedingungen dieses Vernunftgebrauchs selbst analysiert und beschrieben zu haben, dergestalt, daß darin auch die historisch-faktischen Philosophien nach ihren wirklichen Strukturen - und dies müssen nicht unbedingt die leitenden, bewußten Vorstellungen ihrer historischen Autoren sein - aufgewiesen und beschrieben werden können. Dieser Gedanke, vom Hermeneutiker Kant in der einflußreichen Formel ausgedrückt, der Interpret könne oder müsse den Autor besser verstehen, als dieser sich selbst verstanden habe, wird ab nun und bis heute nicht mehr aus der methodologischen Reflexion der Philosophiehistorie verschwinden. Wir werden dem Gedanken auch in dem Zusammenhang begegnen, wo nicht eine Vergangenheit, sondern ein Außen der europäischen Kultur interpretiert wird.[14] Der Philosoph, der die Vernunftkritik durchgeführt hat oder deren Erkenntnisse berücksichtigt, kennt gewissermaßen a priori - vor aller Geschichtskenntnis - die vernunftmäßig überhaupt möglichen Formen und Inhalte der Philosophie, von welchen zumindest einige auch tatsächlich in der Geschichte vorgefunden werden können. In den "Losen Blättern" Kants lesen wir:
Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, sondern rational, d.i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft darstellt, so entlehnt sie solche nicht aus der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.[15]
Kant selbst hat nur wenige Hinweise dazu gegeben, wie er sich eine solche Archäologie vorstellt, sowie eine Skizze der Gesichtspunkte, die er hierbei für nötig hält, im entsprechenden Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft eingerückt. Dort stellt er aber auch fest, es sei dies "eine Stelle ..., die im System übrigbleibt, und künftig ausgefüllt werden muß".[16]

Darüber nun, wie diese Stelle im kantischen System ausgefüllt werden solle und könne, haben sich Kantianer schon sehr bald Gedanken gemacht. Einen wesentlichen Anstoß dazu gab die Berliner Akademie der Wissenschaften 1791 mit der Preisfrage: "Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?" Einem Vernunftkritiker mußte sich die Vorfrage stellen, ob überhaupt vor der durchgeführten Kritik der Vernunft im Wortsinn von "Fortschritten" die Rede gewesen sein könne, da sich doch sämtliche Lehrgebäude und Spekulationen bis zu diesem Unternehmen in Unkenntnis über ihre eigenen Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen befunden hätten. K. L. Reinhold führt daher in seinem Beitrag zur Beantwortung der Preisfrage den Gedanken aus, daß eine Geschichtsschreibung der Philosophie als Wissenschaft überhaupt erst dann möglich sein würde, wenn alle besonderen Philosophien durch die eine, endgültige Philosophie überholt und von dieser aus beurteilbar geworden sein würden:

wir werden erst dann einen Geschichtsschreiber der Philosophie aufzuweisen haben, wenn wir einmal eine Philosophie ohne Beynamen, eine Philosophie kat` exochen, eine Philosophie, die alle Philosophien verdrängt hat, und auf allgemeingeltenden Grundsätzen fest stehet, haben werden.[17]
Der Grund für Reinholds "erst dann" liegt eben darin, daß er als Kantianer ein Fortschreiten der menschlichen, philosophierenden Vernunft nicht kontinuierlich und chronologisch ansetzt, sondern mit Kant der Auffassung ist, die Vernunftkritik habe endlich und schlagartig geleistet,
was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten ...: nämlich, die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.[18]
Es stellt sich beim Lesen solcher Aussagen ernsthaft die Frage, ob die nun als Wissenschaft nach Prinzipien und in Kenntnis der überhaupt möglichen Methoden und Voraussetzungen entfaltete Philosophie denn auch so etwas wie eine Vorgeschichte hat, oder ob nicht vielmehr zwischen dem Begriff der Geschichte und dem Begriff der Philosophie eine logische Unverträglichkeit besteht. Man denkt vielleicht an Hegels Formulierung dieses Dilemmas in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, doch treffen wir das Thema viel früher an. J.C. Grohmann hat, neben anderen Kantianern, die Frage systematisch untersucht.[19] Grohmann stellt bereits fest, daß der Ausdruck Geschichte der Philosophie ein Ausdruck von der Art hölzernes Eisen sei: Geschichte sei etwas ständig sich Veränderndes, während die Philosophie apriorische, zeitlos gültige Erkenntnis verlange und auch erreiche:
Wenn das Wort Geschichte im strengen Sinne eine Aufzählung von Begebenheiten, die in der Aufeinanderfolge existieren, die durch sinnliche Kausalität hervorgebracht worden, bedeutet; so kann dies Wort in diesem Sinne auf Philosophie, welche gerade dieses nach einander geschehene, sinnlich bestehende ausschließt, nicht angewandt werden: es muß also in weiterer Bedeutung genommen werden.[20]
Was der Geschichte der Philosophie, wenn sie überhaupt in einer sinnvollen Weise erforscht werden kann, in Grohmanns Augen ganz unangemessen wäre, ist eine chronologische Betrachtungs- oder Darstellungsweise: "die chronologische Ordnung und Form (ist) eine zufällige Form bei der Geschichte der Philosophie". Ja, noch mehr: es "widerstreitet diese Form dem Wesen der Veränderungen der Philosophie, die systematisch aus den Denkgesetzen selbst hervorgehen".[21]

Nach Grohmanns Ansicht hat es also schlechthin keinen Sinn, ein chronologisches Fortschreiten des Philosophierens für eine Entwicklung der Philosophie zu nehmen; ebensowenig macht die Suche nach äußeren Faktoren, wie er sie aus der sogenannten "pragmatischen" Philosophiehistorie der Aufklärung kennt[22], für ihn Sinn. Wer beispielsweise irgendeine Art von Ursache für Spinozas System in einer Naturanlage dieses Denkers, wer, um spätere Fälle vorwegzunehmen, etwa irgendein Argument gegen oder für Marxens Thesen aus dessen jüdischer Herkunft entnehmen wollte, der verstünde seinen Gegenstand nicht, würde ihn notwendig verfehlen. Nicht diese oder jene äußeren Faktoren akzeptiert der Kantianer als philosophisch relevant, sondern ausschließlich die behauptete tatsächliche Relation eines philosophischen Gedankens zu seinen Möglichkeitsbedingungen. Sie müsse man untersuchen, darin lägen die Beziehungen zwischen einer historisch-wirklichen, einer bestimmten Philosophie und der Vernunftstruktur überhaupt.

Die Überlegung betrifft aber nicht nur den Ausschluß von solchen Erklärungsvorschlägen aus dem Aufgabenbereich der Philosophie, wie sie uns bei Brucker und Tiedemann begegnet sind, sie betrifft auch die Bestimmung des Gegenstandes von Philosophiehistorie selbst. Denn wenn die ausschlaggebende Relation diejenige zwischen der Vernunftstruktur im allgemeinen und einer bestimmten Modifikation der Vernunfttätigkeit ist, so ist das Erkenntnisobjekt des Historikers ebendiese Modifikation in ihrer Eigenart, in ihren wesentlichen Zügen und ihrem inneren Zusammenhang, und nicht etwa einzelne Philosopheme, die von einem Philosophen gefunden worden seien. Es geht dann eben nicht an, wie der "pragmatische" Aufklärer Brucker die einzelnen Erfindungen oder Entdeckungen des Aristoteles auf dem Gebiet der Logik aufzulisten und zu beurteilen; es geht auch nicht an, wie Tiedemann nur nach den "neuen" Beiträgen zu suchen und somit etwa Spinoza lediglich seiner Affektenlehre wegen zu referieren. Nicht Philosopheme hat der nachkantische Philosophiehistoriker Grohmann zufolge darzustellen, sondern Systeme.

Wenn jedes philosophische System als eine mögliche Modifikation des Vernunftvermögens zu betrachten ist, so verliert damit die Chronologie ebenso wie die Kausalerklärung ihren heuristischen Wert, den sie unter der Voraussetzung eines Wissensfortschritts gehabt hatte. Kant selbst hat zwar den Gedanken geäußert, die Abfolge gewisser metaphysischer Grundeinstellungen sei nicht zufällig, sondern gehorche einer Gesetzmäßigkeit[23], aber dies betraf eher methodologische Orientierungen des Denkens, als inhaltliche Aussagen. Die einzelnen Beiträge, die noch Tiedemann nach dem Kriterium ihrer relativen Neuheit ordnen wollte, stehen nach Kants Auffassung wesentlich nicht in einem chronologischen Verhältnis zueinander. So kann denn auch Grohmann feststellen, es mache die "Geschichte der Philosophie ... doch wohl auf eine verständigere Ordnung Anspruch, als auf dieses zufällige Nacheinanderfolgen nach Zeit und Zeitfolge."[24]

Der Historiker und Philosoph, bei dem das Dilemma in einer Synthese von Logik und Chronologie aufgelöst ist, wird uns noch begegnen; es ist Hegel.



ANMERKUNGEN:

[1]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. III, S. VI

[2]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. III, S. VIII

[3]Es sind keine unterschiedlichen kulturellen Traditionen, auf die Tiedemann sich hier stützt. Fraglich ist daher, wieweit seine Vorgangsweise in einer interkulturell orientierten Philosophiehistorie überhaupt angewandt werden könnte.

[4]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. III, S. VIII
Ganz anders sieht Gmeiner dies noch in seiner Vorrede 1788, worin die Vorstellung vom auch diesbezüglich dunklen Mittelalter zum Ausdruck kommt: "die Künste und Wissenschaften haben, gleich den Staaten und Nationen, eine nach der andern ihre glänzenden und ruhmvollen Perioden, in welchen sie mehr als jemals die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen, in einem glänzendern Licht als sonst erscheinen und das Lieblingsstudium des Zeitalters werden; aber bald sind diese Perioden vorüber, und die wenigen Jahre des Glanzes und Ruhmes verlieren sich oft in Jahrhunderte der Vergessenheit. So gieng es auch der Philosophie..." Diese sei, so schreibt Gmeiner an anderer Stelle, zeitweise "so weit ausgeartet, daß sie nicht mehr die edle Führerinn des menschlichen Verstandes war, nein! eine Tirannin junger Köpfe war sie, der (sic!) das menschliche Gefühl ersticket, und dennoch jauchzten die Schulweisen ganze 2000 Jahre mit diesen Hirngespinsten." (Gmeiner 1788, Bd. II, S. 107)

[5]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. III, S. VIII

[6]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. I, S. VII

[7]Tiedemann ist mit seinen protokollierten Beobachtungen an den eigenen Kindern als einer der Begründer der Kinderpsychologie anzusehen.

[8]Vgl. Braun 1990, S. xxx

[9]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. IV, S. VIII

[10]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. IV, S. 318

[11]Tiedemann, Geist der speculativen Philosophie, Bd. I, S. X; der Bezug auf Brucker mit seiner an Diogenes Laertius anschließenden Gliederung nach "Sekten" ist hier unüberhörbar; aber auch die Diskussion der Kantianer, in der die Chronologie einen untergeordneten, an sich unvernünftigen Gesichtspunkt darstellt, findet hier ihren empiristischen Widerhall.

[12]Die diesbezügliche Diskussion ist dargestellt bei Geldsetzer 1968, Braun 1990 und Santinello 19xxx

[13]Zu den Facetten des Fortschrittsbegriffs vgl. Rapp 1992

[14]Vgl. z.B. die Diskussion um das Buch von Tempels 1945

[15]Kant, Akademieausgabe, Bd. XX, S. 341

[16]Kant, KrV/B 880-884.

[17]K.L. Reinhold, Über den Begriff der Geschichte der Philosophie, 1791.
Die Ausdrucksähnlichkeit bei dem Wiener Reinhold mit dem (späteren) Buchtitel des Wiener Professors Karpe scheint mir hier unüberhörbar, war aber vermutlich doch für das allgemeine deutsche Publikum Reinholds nicht so selbstverständlich. Daß Karpes Philosophie ohne Beynahme kein Kantianismus ist, versteht sich.

[18]Kant, KrV/B, 884

[19]J.C. Grohmann, Über den Begriff der Geschichte der Philosophie, 1797. Vgl. dazu auch die Untersuchungen von Goess, Heydenreich und Fülleborn.

[20]Grohmann 1797, S. 30

[21]Grohmann 1797, S. 41

[22]Etwa aus den Schriften von Brucker; vgl. dazu Wimmer 1990, 223-236

[23]"Es sind ... drey Stadien, welche die Philosophie zum Behufe der Metaphysik durchzugehen hatte. Das erste war das Stadium des Dogmatism; das zweyte das des Scepticism; das dritte das des Kritizism der reinen Vernunft." Kant, Akademieausgabe XX, S. 246; vgl. KrV/B 884.

[24]Grohmann 1797, S. 48.