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Geschichte der Philosophiehistorie

(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)

Chinesische Antike


Autoren: Sima Qian | Konfuzius | Huang Tsung-hsi

Gattungen: Doxographie | Biographie

Literaturhinweise 


Innerhalb der traditionellen chinesischen Historiographie hat sich schon in antiker Zeit ein Schematismus entwickelt, der vor allem die sogenannten Standardgeschichten, in hohem Grad jedoch überhaupt historisches Denken und Geschichtsschreibung in China bestimmte. Während der frühen Qing-Zeit (um ca. 1650), als die Standardgeschichte der vorangegangenen Dynastie, der Ming, von einer Historikerkommission mit kaiserlichem Auftrag ausgearbeitet werden sollte, gewann vorübergehend auch die Kategorie des Philosophischen, bzw. des Ideologischen im Zusammenhang mit den Kategorien zur Beschreibung der abgelaufenen Ära eine gewisse Bedeutung. Huang Tsung-hsi (1610-95), einem der führenden Theoretiker dieser Zeit, der zwar an der Geschichte der Ming selbst nicht mitgearbeitet, diese aber methodologisch, vor allem durch seine Schüler, stark beeinflußt hat, wird daher von einigen Gelehrten bescheinigt, er habe zuerst der Geschichtsschreibung über Philosophenschulen innerhalb der offiziellen Historiographie Chinas Geltung verschafft, wenn dies vielleicht auch nur eine vorübergehende Entwicklung gewesen sei. Huang ist der Verfasser einer Geschichte der Denker der Ming-Zeit und hat auch die entscheidenden Vorarbeiten für eine Geschichte des Denkens in den Dynastien der Song und Yuan geleistet. 

Ich will hier jedoch nicht mit diesem Datum beginnen, weil es wohl auch für Europa unzutreffend wäre, die Entstehung der Philosophiehistorie erst mit ihrem Auftreten als einer eigenen Disziplin anzusetzen und die frühen (doxographischen, biographischen etc.) Formen in den antiken Mittelmeerkulturen zu übergehen. Ich will daher auch im Hinblick auf China wenigstens versuchsweise die klassische Zeit der antiken Philosophie in den Blick nehmen.

In diesem Zusammenhang sind vor allem folgende Fragen zu behandeln:

Wie ist die Grundstruktur der traditionellen chinesischen Standardgeschichten zu kennzeichnen? Welche geschichtsphilosophischen Auffassungen herrschen vor? Diese Fragen sind darum von Interesse, weil bei dem hohen Institutionalisierungsgrad der chinesischen Geschichtsschreibung das geschichtliche Denken überhaupt in hohem Grad von der Struktur der Standardgeschichten bestimmt war, und es daher aufschlußreich ist, zu sehen, warum es innerhalb dieser Tradition nicht (bzw. nur spät und vorübergehend, wenn wir die Geschichte der Ming in Betracht ziehen) zu einer Diskussion der Disziplin der Philosophiehistorie gekommen ist.

Traditionelle Historiographie und Philosophiegeschichte in China

Die Grundstruktur der chinesischen Standardgeschichten zeigt sich zum ersten Mal in dem in der Folgezeit klassisch gewordenen Werk der Han-Zeit, das von Sima Qian (ca. 145 v.-90 v.) fertiggestellt worden ist. Sima Qian war als Amtsnachfolger seines Vaters kaiserlicher Historiograph (es gibt keine wirklich vergleichbare Institution in unserer europäischen Geschichte) unter dem vierten Kaiser der Han-Dynastie, Wudi (regiert 140 v.-86 v.).

Sima Qians Bericht über die Geschichte Chinas von den Anfängen bis in seine Gegenwart entwickelt in prägender Weise jene Kategorien, Begriffe und Methoden, die auch später noch, und in einzelnen historischen Unternehmungen bis in unsere Zeit, die chinesische Historiographie bestimmt haben. Der Einheitsgesichtspunkt, der dem Ganzen zugrundeliegt, ist ein universalistischer und integrativer Begriff unter dem Namen einer Dynastie. Die Einheit der Dynastie, ihre jeweilige Charakteristik, ihre Vorzüge und ihre Mängel bestimmen sowohl die Auswahl der Ereignisse, Personen, Institutionen, als auch den Aufbau der Darstellung und die Bewertung der einzelnen Faktoren im historischen Werk. Ich will daher zunächst auf diesen Begriff der Dynastie und die mit ihm verbundene Geschichtsauffassung kurz eingehen, um dann die eher formalen Strukturelemente zu skizzieren, wie sie vor allem den Standardgeschichten zugrundeliegen.

Das Auffallendste an den traditionellen chinesischen Geschichtswerken scheint darin zu liegen, daß sie von der (gelegentlich fiktiven und sicher oft propagandistischen) Idee ausgehen, daß immer wieder eine einzige Dynastie über China herrsche, welche das geistig-kulturelle ebenso wie das wirtschaftlich-politische Leben gänzlich bestimme. Die von Konfuzius (in den sogenannten Frühlings- und Herbstannalen) idealisierte Dynastie der Zhou (ca. 1050 v.-ca. 250 v.) Iiefert eines der ersten Muster dafür. Gerade hierbei fällt auf, daß dieser Dynastie eine übermäßig lange Verfallszeit attestiert wird, da sie nach ca. 800 v. faktisch keine Macht mehr ausübt und von den meisten tatsächlichen Machthabern und deren Ideologen wohl auch nicht mehr als die herrschende Dynastie betrachtet wurde. Konfuzius denkt hier anders, also restaurativ, wo er nur Faktisches in den Annalen zu konstatieren vorgibt. Trotz der in Wirklichkeit großen Veränderungen und Machtverschiebungen wird die ganze Epoche bis zu jener kurzen Phase des Qin-Reiches, als der Erste Kaiser von China (Qin Shih huang, regiert 221-206 v. über alle sieben Nachfolgestaaten des ehemaligen Zhou-Reiches), als eine Einheit, eben als die Zeit der Zhou-Dynastie, betrachtet. Schon bei Sima Qian findet sich hierfür eine entsprechende kosmologisch metaphysische Hintergrundtheorie, die eine solche Geschichtsauffassung stützen soll.

Sima Qian nimmt an, daß jede der großen Dynastien eine Teilform oder besondere Anwendung des Tao als ihr jeweiliges Staatsprinzip durchsetzt. Jedoch muß, eben weil es sich jeweils um bloß verabsolutierte Teile, nie um das Ganze des Tao handelt - und handeln kann - jeder dieser Staaten, jede dieser Dynastien wieder zerfallen: das Gegenprinzip des jeweiligen Teilprinzips wird sich durchsetzen. Eine Dynastie stellt also ein zeitweiliges Übergewicht einer bestimmten Ordnungsvorstellung her - und dauerhaft sind jene Dynastien, deren Staatsprinzip die richtige Heilung für die von der vorausgegangenen Dynastie verursachten Mißstände bringt.

Es gibt aber nur eine kleine Zahl von solchen Teil-Taos oder Staatsprinzipien, sodaß der Gesamtprozeß durch sich wiederholende Zyklen gekennzeichnet ist. Dies leuchtet ein, wenn man voraussetzt, daß Staatsprinzipien, deren Kairós nicht gegeben ist, oder die überhaupt nicht dem Tao entsprechen, ohnedies sehr schnell wieder samt ihren Verfechtern (da diese nicht das Mandat des Himmels haben) verschwinden - was bei der Interpretation der Geschichte durchaus zur Rechtfertigung des langdauernd Erfolgreichen verwendet wird, bei der Interpretation der Gegenwart aber sowohl revolutionären wie auch reaktionären Ideologen dienen kann.

Diese Zyklentheorie Sima Qians scheint im historischen Denken Chinas wichtig, aber durchaus nicht allgemein bestimmend gewesen zu sein. Als Pendant dazu möchte ich daher noch kurz auf den etwa 1900 Jahre späteren Geschichtsphilosophen Chang Hsüeh-cheng hinweisen, der nach dem Urteil seines modernen Kommentators Nivison Denkern wie Ibn Khaldun oder den großen europäischen Geschichtsdenkern nicht nachsteht. Zunächst aber noch einmal zu Sima Qian.

Sima Qian führt in seiner Darstellung des Gründers derjenigen Dynastie, unter der er lebt, gewichtige Gründe dafür an, warum in der Revolte, in der diese Dynastie sich schließlich etablieren konnte, das rechte Prinzip getroffen worden und eine dauerhafte Regierung zu erwarten sei. Zu diesem Zweck greift er auf die alten, nur teilweise noch historisch nachweisbaren Dynastien zurück, soweit sie ebenfalls in der rechten Reihenfolge das jeweils anstehende Teilprinzip des Tao mit ihrem Staatswesen verwirklicht hätten. Zuerst wird die legendäre Hsia (Xia)-Dynastie genannt: sie war durch guten Glauben gekennzeichnet, ihr Verfall lag in dessen Kehrseite, der Derbheit. Die anschließende Shang-Dynastie (ca. 1600-1100 v.) heilte diesen Verfallszustand durch ihr Prinzip der Verehrung, welches aber im Verlauf der Zeit zu abergläubischem Götzendienst entartet sei. Es folgen die Zhou, als deren Staatstugend er Verfeinerung und Ordnung angibt; die Verfallsform dazu wiederum war hohle Schaustellung. Jetzt wäre es geboten gewesen, zum guten Glauben zurückzukehren, aber die Qin-Dynastie, die auf die Zhou folgte, schlug nicht diesen Weg ein, sondern führte, von den legalistischen Philosophen schlecht beraten, zur Erhaltung von Recht und Staat "harte Strafen und Gesetze" ein - was in Sima Qians Augen erklärt, daß diese Dynastie schon bald nach dem Tod ihres Begründers, des legendären Shih Huang-ti (im Jahre 206 v.) scheitern mußte.

Erst die Han-Dynastie, also der Ahn des Kaisers Wudi, habe wieder den alten Völkerglauben etabliert, sie wurde damit zu den Hsia von Sima Qians Gegenwart, sie habe den Zyklus in rechter Weise von neuem begonnen.

In dieser Auffassung scheint die Vorstellung von einem linearen Fortschreiten, einer stets weiterführenden Entwicklung zu fehlen: es herrscht die Vorstellung vom Variieren eines Modells, wobei die Realität, an der die Tauglichkeit der einzelnen Varianten sich messen kann, eine kosmisch-metaphysische Ordnung ist. Es scheint mir, daß diese Geschichtsauffassung, die sich zwanglos mit der Idee einer Epochalisierung in Dynastien verbindet, auch bei der traditionellen Einstellung chinesischer Gelehrter gegenüber der Vergangenheit ihrer Philosophie eine Rolle gespielt und einer Entwicklung der spezifischen Disziplin der Philosophiehistorie, wie wir sie in Europa vorfinden, in dieser frühen Phase entgegengewirkt hat. Auf die eingangs schon angesprochene Episode anläßlich der Abfassung der Ming-Geschichte sollten wir allerdings anschließend noch einen kurzen Blick werfen.

Betrachten wir nun, um das skizzierte zyklische Geschichtsbild nicht als das einzige Modell stehen zu lassen, kurz den schon erwähnten Chang Hsüeh-ch'eng. Sind die charakteristischen Merkmale, die Sima Qian für die Staatsprinzipien angibt, eng mit religiösem Denken und religiöser Institution verbunden, so finden wir bei Chang im Vergleich dazu eine säkularisierte Theorie vor.

Chang Hsüeh-ch'eng (1738 - 1801) ist ziemlich genau ein Zeitgenosse großer europäischer Geschichtsdenker, doch besagt diese Parallele natürlich ebensowenig für die geistesgeschichtliche Einordnung Changs, als wollte man Sima Qian als ungefähren Zeitgenossen des Titus Livius kennzeichnen. Es ist von der chinesischen Situation auszugehen; und hier stellt sich Chang gegen einen verbreiteten philologischen Kritizismus in der Historiographie, und allgemein in der literarischen Produktion, der ihm steril erscheint. Doch auch aus dieser Gegnerschaft entsteht das Bild einer zyklisch verlaufenden Geschichte.

Auch für Chang Hsüeh-ch'eng ist Geschichte ein Bereich, in dem vorherrschende Kräfte einander ablösen, wobei jede dieser Kräfte von einer Dynastie verkörpert wird. Er spricht von vorherrschenden Tendenzen, einer Art Zeitgeist oder Epochengeist, und auch er konstatiert hier drei - es sind dies jeweils einseitige Verwirklichungen des Tao, die alle zusammen im menschlichen Geist (wie in der Natur im Ganzen) angelegt seien: Studium (hsüeh), Fantasie (ts'ai) und Verstand (shih). In traditionell westlicher Ausdrucksweise müßte man hier wohl von den Geisteskräften des Gedächtnisses, der Einbildungskraft und des Verstandes sprechen - und die methodologischen Reflexionen Heumanns (vgl. dazu die 7. Vorlesung) oder die Geschichtstheorie Vicos in Erinnerung rufen. Im Tao kommen alle drei zusammen, und wo kein Übergewicht von einem davon herrscht, ist das Tao. Die historische Zeit jedoch, die Zeit der Dynastien und Staaten, ist davon gekennzeichnet, daß eben nur jeweils eine dieser Fähigkeiten zum herrschenden Prinzip gemacht wird.

Auch nach Changs Auffassung wiederholen sich die Stadien zyklisch; seine Kritik am - wie er hofft - untergehenden Epochengeist der vergangenheitsorientierten philologischen Kritik ist darum berechtigt, weil dieser Wechsel eben an der Zeit ist.

Wir finden also bei zwei zeitlich weit voneinander entfernten und in vielen Dingen höchst unterschiedlichen chinesischen Geschichtsphilosophen das Bild eines variablen, zyklisch wiederkehrenden, in dynastischen Einheiten erfaßbaren Geschichtsganzen, eine Vorstellung, die zwar in der chinesischen Tradition nicht unbestritten ist. Wenn die beiden, zeitlich und ideologisch weit auseinander liegenden Denker eine generelle Tendenz innerhalb des chinesischen Geschichtsdenkens repräsentieren, so sind sie damit wichtig genug, um etwas an der Eigentümlichkeit der chinesischen Geschichtsschreibung zu erklären, auch, was die Philosophiehistorie betrifft.

Wenden wir uns nun dem anderen Teil der ersten Frage zu: der Struktur der chinesischen Standardgeschichten. Auch dies kann uns einigen Aufschluß über die Darstellung des Wissens aus der Vergangenheit der Philosophie verschaffen.

Das Werk Sima Qians, als Modell noch lange Zeit vorbildlich, soll dazu als Anhaltspunkt dienen. Es ist in 130 Kapitel gegliedert, welche die gesamte bisherige Geschichte der Chinesen und der dem Autor bekannten Nicht-Chinesen zum Gegenstand haben und sich wiederum in 5 Sektionen unterteilen lassen:

a) Annalen: 12 Kapitel über die frühesten Dynastien und das Leben einzelner Kaiser der regierenden (Han-)Dynastie
b) Chronologische Tafeln: 10 Kapitel in graphischer Form, die wichtigsten Ereignisse mit ihren Daten betreffend
c) Abhandlungen: 8 Kapitel über Riten, Musik, Astronomie, Religion und Wirtschaft
d) Adelsfamilien: 30 Kapitel über die Geschichte der verschiedenen Feudalstaaten vor der Reichseinigung durch die Qin-Dynastie
e) Biographien: 70 Kapitel über einzelne berühmte Chinesen und Nicht-Chinesen.

Innerhalb jeder Sektion ist die Anordnung des Materials chronologisch vorgenommen. Wenn Forke urteilt, die Chinesen hätten bis in die neueste Zeit zusammenhängende Darstellungen der Philosophiegeschichte nicht besessen, so merkt er doch gleichzeitig auch an, daß über die Werke der einzelnen Philosophen manches Bemerkenswerte, besonders Textkritisches geschrieben "... und in die großen Enzyklopädien ... aufgenommen worden" sei. Dieses Urteil gilt natürlich nicht mehr in unserem Jahrhundert, da es zahlreiche von Chinesen verfaßte Werke der Philosophiehistorie gibt.

Wie ersichtlich, hat schon die Darstellung Sima Qians einen ausführlichen Teil enthalten, der als Wissenschafts- und Geistesgeschichte klassifiziert werden muß. Dies wurde später beibehalten.

Anläßlich der bereits erwähnten Geschichte der Ming, die in der frühen Qing-Dynastie (1644-1911) abgefaßt wurde, wurden die unter den Ming einflußreichen Neokonfuzianer kritisch vorgestellt und beurteilt. Dabei ging es darum, die ideologische und philosophische Entwicklung dieser Epoche richtig, d.h. im Sinn der absolutistischen Tendenzen der neuen Dynastie zu bewerten und darzustellen. Ein Fixpunkt in diesen Diskussionen war die These, in der Ming-Zeit seien haarspalterische Unterscheidungen ein wesentliches Merkrnal des Schulbetriebs gewesen. Huangs Werk nennt sich "Untersuchungen über (konfuzianische) Gelehrte während der Ming-Zeit" ("Ming-ju hsüeh-an") und bringt eine Revision gegenüber der Praxis in vorangegangenen Standardgeschichten. Die Geschichte der Sung-Dynastie (960-1280) nämlich, zu Beginn der Yüan-Zeit (1280-1368) verfaßt, hatte ein traditionelles Kapitel über "Konfuzianische Gelehrte" ("ju-lin") enthalten, daneben aber wurden dort noch eigens die "orthodoxen Konfuzianer" ("tao-hsüeh") behandelt. Diese Kategorie der konfuzianischen Orthodoxie war, wie Lien-Sheng Yang schreibt, unter den Historikern der frühen Qing-Zeit heftig umstritten, wobei eben das negative Urteil Huang Tsung-hsis den Ausschlag gegeben habe, der kurzerhand die Schulstreitigkeiten der verschiedenen neokonfuzianischen Schulen der Ming-Zeit als nicht relevant oder nicht interessant genug erachtete, um sie in einer allgemeinen Geschichte dieser Epoche zu behandeln. Dies war eine Revision, denn die Kategorie der "orthodoxen Konfuzianer", im Unterschied zu den "Konfuzianern" war erst in der Geschichte der Sung eingeführt worden, um die Richtung des Chu Hsi zu kennzeichnen, wobei angenommen wird, daß dies auf eine Selbstbezeichnung aus der Sung-Zeit zurückgeht. Auffallend für den europäischen Leser ist sicherlich die Ähnlichkeit der Argumentation, mit der hier ein Mittelalter gezeichnet wird. Inhaltliche Irrelevanz, Haarspalterei, Schulgezänk - das waren schließlich auch die Ausdrücke, auf die Philosophiehistoriker in der europäischen Neuzeit immer wieder verfielen, um sich von der Scholastik abzusetzen. Und wenn Huang in der Einleitung zu Ming-ju hsüeh-an schreibt, es sei eben nicht möglich, alle Denker der Vergangenheit über einen Leisten zu scheren, auch wenn bei ihnen allen die gemeinsame Wurzel zu suchen sei, so läßt auch diese Überlegung an ähnliche Motivationen europäischer Philosophiehistoriker der frühen Neuzeit denken, bei denen der Rückgang zu den Quellen zugleich eine Erforschung des eigenen Geistes bedingen sollte.

Diese wenigen Hinweise lassen gewiß keine weitreichenden Schlußfolgerungen zu; sie weiter zu verfolgen, wäre auch nur mit Hilfe philologisch kompetenter Methoden möglich. Es scheint mir jedoch, daß ein solcher Aufwand gegenüber der chinesischen Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte durchaus angebracht wäre und vielleicht zu überraschenden Ergebnissen führen könnte.

Nun ist aber ganz abgesehen von solch explizit historiographischen Ansätzen zumindest auf einige Kennzeichen der traditionellen philosophischen Literatur Chinas hinzuweisen, in denen eine implizit philosophiehistorische Methode angewandt wird - und zwar zu genau denselben Zwecken, wie wir sie in der antiken Philosophiehistorie der Griechen gesehen haben, nämlich zur Herstellung und Stärkung von Schultraditionen, zur Verteidigung von Stifterfiguren und zur Tradierung von Diskursformen.

Doxographie und Biographie in konfuzianischer Klassik

Ein Beispiel für doxographische und biographische Darstellung der Philosophie scheint mir in der Redaktion der sogenannten Gespräche des Konfuzius vorzuliegen. Der Text ist in 20 Bücher gegliedert.

Das erste Buch ist eine Doxographie: nach einer groben Vorstellung des Begriffes eines edlen Menschen (mit Hilfe von referierten Aussprüchen des Konfuzius) folgen mehrere Auslegungen dieser Idealvorstellung, die voneinander zum Teil beträchtlich abweichen, durch Konfuzius und andere Philosophen, Schüler des Meisters. Hier findet sich also das Grundmuster des Kanons, das für die Doxographie typisch ist. Die ersten Abschnitte (Kap. 2-8) des Buches 1 sind solche Beschreibungen des Edlen.

Darauf folgen Abschnitte, in denen die grundlegenden "Pflichten gegen andere" und "Pflichten gegen sich selbst" behandelt werden. Den Abschluß des ersten Buches (Kap.16) bildet ein Ausspruch des Konfuzius, der die Autonomie des einsichtsfähigen Subjekts betonen soll: er kümmere sich nicht darum, ob die Menschen ihn kennen; er kümmere sich darum, ob er die Menschen kennt.

Mehr oder weniger in dieser Art sind auch die Bücher 2 bis 9 der Analekten redigiert: Aussprüche des Meisters oder seiner großen Schüler über die kanonischen Themen, also über Regierungskunst, Familienpflichten, Erziehung der Jugend u.ä. Ein durch und durch doxographisches Werk.

Das zehnte Buch weicht von diesem Schema ab. Es ist nicht so sehr doxographisch, als vielmehr biographisch: es enthält Beschreibungen von Handlungen und Verhaltensweisen des Konfuzius selbst. Allerdings ist dies offenbar weniger ein Bericht über dessen individuelle Taten und Erlebnisse, als vielmehr über Verhaltensformen, die den Konfuzius als einen Edlen ausweisen.

Damit ist die erzieherische Absicht des Textes ganz klar. Das erste Kapitel etwa lautet:

In seinem Heimatort verhielt sich Konfuzius besonders höflich und so zurückhaltend, als könne er nicht sprechen. Im fürstlichen Ahnentempel und bei Hofe redete er unbefangen, aber er wählte seine Worte mit Bedacht.
Es folgen ähnliche, gewiß normativ zu lesende und zu verstehende Beschreibungen über des Meisters Verhalten gegenüber Beamten, Freunden, über seine Kleidungs-, Essens-, Schlafgewohnheiten etc. Die Biographie steht hier unter dem kanonischen Schematismus, sie dient zur Gänze der Exemplifizierung der ethischen Lehre.

Die farbigeren, individuelleren Episoden aus dem Leben des Konfuzius finden sich in späteren Büchern (Analekten 16 und 17), obgleich insgesamt die Bücher 11 bis 20 wieder als doxographisch zu bezeichnen sind.

Wieweit es in der Entstehungszeit der ersten konfuzianischen Schriften eine Reflexion auf die Formen der Historiographie der Philosophie, vergleichbar etwa der platonischen oder der aristotelischen Reflexion, gegeben hat, kann ich nicht beurteilen. Daß aber, zumindest in diesen Schriften (und wohl auch in denjenigen späterer Konfuzianer, aber auch der Mohisten und der Legalisten) philosophiehistorische Praktiken entwickelt sind, scheint mir nicht fraglich zu sein. Daraus aber zu folgern, daß philosophiehistorische Formen der chinesischen Tradition überhaupt nicht eigentümlich seien, hieße wohl, sich allzu stark an der neuzeitlichen Literaturgattung der allgemeinen Philosophiegeschichten zu orientieren. Es ist daher zwar ein zutreffendes, aber kein hinreichend differenziertes Urteil, wenn Forke sagt, Philosophiehistorie habe es in China bis in die neueste Zeit nicht gegeben.

Das Konfuzius-Kapitel bei Sima Qian ist, bei aller deutlich merkbaren didaktischen Absicht, frisch und ansprechend geschrieben. Das plastische Bild des Konfuzius, das hier entworfen wird, hat jedoch seine Angelpunkte in ganz ähnlichen Stereotypen, wie wir ihnen bei den griechischen Philosophenviten schon begegnet sind, und wie sie uns bis heute unterkommen, wo Lebensläufe von Philosophen beschrieben werden: Umstände der Geburt und Kindheit, Lehrzeit, Auseinandersetzung mit Gegnern und unverständigen Schülern, Versuchungen durch Macht und Reichtum, schließlich die Umstände des Todes - es sind ähnliche Stereotype übrigens auch in den Viten der großen Religionsstifter gegenwärtig, man denke an Buddha, Jesus oder Mohammed.

Daraus ist zu ersehen, worin die Leser oder Hörer solcher Philosophenleben Vorbilder suchten oder erkannten; darum sind die Anekdoten aus den Philosophenleben auch stets als aufschlußreich für das Selbst- und Lebensverständnis der Zeit anzusehen, in der diese Beschreibungen entstanden sind.

Den wesentlichen Unterschied zwischen den biographischen Daten in den Gesprächen X und der Darstellung bei Sima Qian sehe ich in Folgendem: der erstere Text ist stärker kanonisch aufgebaut, die angesprochenen Themen gliedern sich nicht nach chronologischer Ordnung, sondern entsprechend ihrer inhaltlichen Gewichtung. So ist die Kennzeichnung des Verhaltens des Konfuzius in seinem Dorf und bei Hof gefolgt von zwei weiteren Abschnitten, die das Verhalten bei Audienzen (X,2) und gegenüber Staatsgästen (X,3) betreffen, also insgesamt drei Relationen öffentlicher Existenz. Die einzelnen Verhaltenszuschreibungen wirken in den Gesprächen also auch dort standardisiert und formelhaft, wo sie persönlich formuliert sind. Sima Qians Konfuzius-Kapitel ist ebenfalls standardisiert, aber weniger nach einem thematischen Raster, als vielmehr nach einer Vorstellung von Lebenseinheit, die der Historiker auch sonst anwandte. Worauf es ihm bei dieser Vita ankommt, drückt Sima Qian in dem sehr persönlich gehaltenen Schlußwort zu seiner Darstellung des Meisters so aus: Ich suche den Menschen Konfuzius selbst.



Literaturhinweise
 

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